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Ob Rich Joyce gewusst hatte, dass sich seine Enkelin für Übernatürliches interessierte oder schlichtweg das Besondere liebte? Deshalb also hatte Lizzie uns auf den Pioneer Rest Cemetery geführt, und deshalb stand ich jetzt hier und wartete auf ihr Signal zum Loslegen.

Die eigensinnige Lizzie wollte was sehen für ihr Geld, also würde sie mich nicht gleich zum Grab ihres Großvaters führen. Sie hatte mich nicht einmal über den Sinn und Zweck meiner Suche unterrichtet, bevor ich vor einer halben Stunde aus meinem Wagen gestiegen war. Natürlich konnte ich hier herumspazieren und alle Grabinschriften lesen, bis ich auf eine mit den passenden Daten stieß. So viele Joyces lagen hier auch nicht unter der Erde. Aber ich würde die Sache trotzdem etwas in die Länge ziehen und ihr ein paar Gratisdarbietungen geben, da sie bei meinem Honorar nicht mit der Wimper gezuckt hatte.

Ich hatte meine Schuhe ausgezogen und musste aufpassen, wo ich hintrat. In Texas verstecken sich Dornen im Gras, auch wenn es noch so schön aussieht. Ich warf einen letzten Blick auf das Panorama aus sanften Hügeln und Bäumen. Der kleine Friedhof hätte ebenso gut auf dem Mond liegen können, so stark war der Kontrast zu den dicht besiedelten Landstrichen und wohlgeordneten Kleinstädten, die wir auf dem Weg zu unserem letzten Auftrag in North Carolina passiert hatten. Dort waren wir zwar in einem kleinen Kaff gewesen, aber ich hatte mich dort nie so isoliert gefühlt wie hier in dieser Landschaft. Man hatte stets gewusst, dass der nächste Ort nur eine kurze Autofahrt entfernt war.

Aber wenigstens war es hier nicht ganz so kalt, wir konnten davon ausgehen, dass es nicht schneien würde. Meine Füße prickelten in der kühlen Luft, aber nicht so, wie ich im eis- und nasskalten North Carolina am ganzen Körper gefroren hatte.

Die Joyces waren in der Nähe der alten Eiche bestattet worden. Ich entdeckte einen großen Felsbrocken, der auf einer Seite poliert worden war. Dort hatte man in riesigen Buchstaben den Namen Joyce eingraviert. Es hätte doch etwas zu naiv gewirkt, diesen Hinweis zu ignorieren. Ich blieb am ersten Grab dieser Familiengruft stehen, obwohl es eindeutig nicht das war, weswegen ich hier war. Aber egal, irgendwo musste ich schließlich anfangen. Auf dem Grabstein stand: Hier ruht Sarah, die geliebte Ehefrau von Paul Joyce. Ich atmete tief durch und betrat das Grab. Sofort war ich wie elektrisiert und nahm Verbindung zu den Gebeinen unter meinen Füßen auf. Sarah wartete wie alle Verstorbenen, und zwar unabhängig davon, ob sie schon lange tot oder erst seit Kurzem verstorben sind, ordnungsgemäß bestattet oder wie Müll weggeworfen wurden. Ich spürte mit meiner besonderen Gabe tief in die Erde hinab. Stellte einen Kontakt her. Hörte zu.

»Eine Frau um die sechzig, ein geplatztes Aneurysma«, sagte ich. Ich öffnete die Augen und betrat das nächste Grab. Dieses hier war älter, deutlich älter. »Hiram Joyce«, sagte ich. Ich stand da und versuchte, die wenigen noch verbliebenen Knochen unter meinen Füßen zu erreichen. »Eine Blutvergiftung«, sagte ich schließlich. Ich ging zu dem Grab daneben und blieb einen Moment stehen, bis mich das Summen erfasste: Das war der Ruf der Gebeine, der sterblichen Überreste. Sie wollten, dass ich erfuhr, woran sie gestorben waren, wie ihr letztes Stündlein ausgesehen hatte. Ich warf einen Blick auf den Grabstein. Man muss das Rad schließlich nicht neu erfinden.

Das hier war kein Mitglied der Familie Joyce, obwohl es in ihrer Gruft beerdigt worden war. Das Sterbedatum lag acht Jahre und ein paar Monate zurück. Die Grabinschrift lautete Mariah Parish. Obwohl ich spürte, dass sich die beiden Männer, die im kümmerlichen Schatten eines verkrüppelten Baumes warteten, plötzlich aufrichteten, war ich zu sehr darauf konzentriert, Kontakt aufzunehmen, um mir darüber Gedanken zu machen.

»Oh«, sagte ich leise. Der Wind zerzauste mein dunkles kurzes Haar und zerrte daran. »Oh, die Ärmste.«

»Wie bitte?«, fragte Lizzie, deren raue Stimme einfach nur verwirrt klang. »Das war die Pflegerin meines Großvaters. Sie hatte einen Blinddarmdurchbruch oder so was Ähnliches.«

»Sie hat viel Blut verloren, ist nach der Geburt eines Kindes gestorben«, sagte ich. Ich zählte zwei und zwei zusammen und sah zu den beiden Männern hinüber. Drexell war tatsächlich einen Schritt näher gekommen. Chip Moseley staunte, war aber auch wütend. Ob ihn die Information schockierte oder vielmehr die Tatsache, dass ich sie laut ausgesprochen hatte, wusste ich nicht. Aber egal, was in den Männern vorging – für Mariah war es zu spät. Ich wandte den Blick ab und betrat das Grab rechts davon, jenes, weswegen ich gekommen war. Es war ein besonders breites Doppelgrab und besaß den größten Grabstein von allen. Richard Joyces Frau war zehn Jahre vor ihm gestorben. Sie hatte Cindilynn geheißen, und ich fand heraus, dass sie an Brustkrebs gestorben war. Ich erwähnte das und sah, dass sich Kate und Lizzie anblickten und nickten. Ich betrat den Bereich daneben, den von Rich Joyce. Er war vor acht Jahren gestorben, kurz nach seiner Pflegerin. Ich legte den Kopf schräg, während ich Richards Gebeinen zuhörte.

Er hatte etwas Unerwartetes gesehen, soviel wurde mir klar. Aber ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich begriff, dass er mit dem Jeep angehalten hatte und ausgestiegen war, weil er einen Bekannten getroffen hatte.

Ich hatte kein Bild von dieser Person vor Augen. Es ist nicht so, als sähe ich einen Film. Ich versetze mich eher für einen kurzen Augenblick in die Person des Verstorbenen hinein, denke, was sie gedacht, fühle, was sie in den letzten Sekunden ihres Lebens gefühlt hat. So erfuhr ich von Rich Joyce, dass er angehalten hatte, weil er jemanden entdeckt hatte. Ich durchlief allerdings nicht den Prozess des Wiedererkennens und traf auch nicht die Entscheidung, anzuhalten. Als Rich Joyce stellte ich den Motor ab und stieg aus, als die Schlange angeflogen kam. Die Klapperschlange, die mich (Rich Joyce) dermaßen erschreckte, dass mein (sein) Herz stehen blieb. Mir ist so heiß, kein Wasser, ich komme nicht an mein Handy, oh mein Gott, so sterben zu müssen! Danach wurde alles schwarz. Um klarer zu sehen, was nur ich sehen konnte, schloss ich die Augen und erzählte, was geschah.

Als ich die Augen wieder aufmachte, starrte mich die vierköpfige Joyce-Truppe an, als zeigte ich die Wundmale Jesu. Manchmal reagieren die Leute so, obwohl sie mich doch extra dafür engagiert haben.

Ich jage den Leuten Angst ein, fasziniere sie (wenn auch nicht immer auf eine gesunde Art und Weise) oder beides. Das mit der Faszination schien sich allerdings heute in Grenzen zu halten: Lizzies Freund Chip sah mich an, als trüge ich eine Zwangsjacke, und den drei Joyces stand der Mund offen. Alle schwiegen.

»Jetzt wissen Sie also Bescheid«, sagte ich knapp.

»Das können Sie genauso gut erfunden haben«, wandte Lizzie ein. »Es war jemand bei ihm? Wie denn das? Niemand hat etwas dergleichen erwähnt. Wollen Sie etwa behaupten, dass jemand eine Klapperschlange nach Granddaddy geworfen hat, der daraufhin einen Herzinfarkt bekam? Und dass dieser Jemand anschließend einfach ging? Und wollen Sie allen Ernstes behaupten, dass Mariah ein Baby hatte? Ich habe Sie nicht engagiert, damit Sie mich anlügen!«