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»Ich glaube nicht, dass ich die Mädchen gleich informieren muss«, sagte Iona. »Mal ganz abgesehen davon, dass Hank sie gerade zur Schule fährt. Wir werden das ansprechen, wenn sie heute Nachmittag nach Hause kommen.«

»Ganz wie du meinst«, sagte ich. »Ich muss Mark anrufen.« Ich legte auf und war wütend und enttäuscht. Ich wollte auch nicht, dass sich meine kleinen Schwestern aufregten und Sorgen machten. Erst recht nicht nach dem Vorfall auf der Eisbahn gestern. Aber mich störte, dass mein Verhältnis zu ihnen stets von dieser Hexe beherrscht und reglementiert wurde. Ich wusste, dass ich Iona damit Unrecht tat. Eigentlich musste ich froh sein, dass Hank und sie den Nerv und die Güte hatten, zwei Mädchen aus so schwierigen Verhältnissen aufzuziehen.

Aber immer erst an ihr vorbei zu müssen, war wirklich anstrengend.

Zum ersten Mal musste ich Tolliver recht geben. Vielleicht sollten wir lieber aus dem Leben unserer Schwestern verschwinden und ihnen nur noch Weihnachtsgeschenke und Geburtstagskarten schicken.

Dann ging Mark verschlafen ans Telefon, und ich musste die bösen Gedanken verdrängen, um ins Hier und Jetzt zurückzukehren. Mark hatte am Vorabend Spätschicht gehabt und war dementsprechend wenig aufnahmefähig. Aber ich achtete darauf, dass er das Wichtigste mitbekam und den Namen des Krankenhauses behielt. Er versprach, vorbeizukommen, sobald er konnte, wahrscheinlich am späten Vormittag.

Dann blieb mir nichts anderes übrig, als in den trostlosen Raum zurückzukehren und Tolliver beim Schlafen zuzuschauen. Natürlich hatte ich ein Buch in der Handtasche und versuchte, eine Weile zu lesen. Trotzdem konnte ich der Handlung nicht recht folgen. Schließlich legte ich das Buch weg und sah Tolliver einfach nur an.

Tolliver ist selten krank, und er war noch nie so schlimm verletzt. Der Verband, die Schläuche und sein fahler Teint machten ihn mir regelrecht fremd, so als hätte ein anderer von seinem Körper Besitz ergriffen. Ich saß da und starrte ihn an, wünschte mir, er würde sich aufsetzen und wieder zu Kräften kommen.

Was aber nicht sehr gut funktionierte.

Ich wusste, dass ich jetzt stark sein musste. Jetzt, wo mein Bruder ans Bett gefesselt war, musste ich mich um ihn, um uns kümmern. Gut, dass wir ohnehin vorgehabt hatten, ein paar Tage in Texas zu bleiben. So mussten keine Aufträge verschoben werden. Trotzdem musste ich unsere Mails kontrollieren. Ich würde alles selbst in die Hand nehmen müssen. Sofort hatte ich Angst, dem nicht gerecht werden zu können oder etwas Wichtiges zu vergessen. Aber was konnte ich schon vergessen, das so wichtig war? Solange wir keinen Auftrag übersahen, solange der Wagen vollgetankt war und uns das Benzin nicht ausging, würde ich schon alles richtig machen.

Endlich kam Dr. Spradling herein. Tolliver hatte sich ein wenig bewegt, also wusste ich, dass er bald aufwachen würde. Dr. Spradling sah noch erschöpfter und älter aus als am Vortag. Er warf mir einen Blick zu und nickte, bevor er an Tollivers Bett trat. Dann sagte er durchdringend: »Mr Lang?«

Tolliver öffnete die Augen. Er sah am Arzt vorbei, direkt zu mir, und seine Züge entspannten sich.

»Geht es dir gut, mein Schatz?«, fragte er und versuchte, meine Hand zu nehmen.

Ich ging am Arzt vorbei und lief um das Bett herum auf die andere Seite. Ich nahm seine Linke in meine Hände.

»Wie geht es dir?«, fragte ich.

Dr. Spradling sah Tolliver in die Augen, las seine Patientenakte und hörte uns zu.

»Meine Schulter tut weh. Was ist mit dir passiert?«, fragte Tolliver. »Das Fenster ist explodiert. Hat jemand einen Ziegelstein hineingeworfen? Du hast Schnittwunden im Gesicht.«

»Tolliver, du wurdest angeschossen«, sagte ich. Mir fiel keine taktvollere Methode ein, um ihm das beizubringen. »Mich haben nur ein paar Glassplitter von der Fensterscheibe getroffen. Eine Kleinigkeit. Aber auch du wirst wieder gesund.«

Tolliver machte einen verwirrten Eindruck. »Ich kann mich gar nicht daran erinnern«, sagte er. »Ich wurde angeschossen?«

»Seine Erinnerung wird zurückkehren«, beruhigte mich Dr. Spradling. Ich sah ihn blinzelnd an, um die Tränen zurückzuhalten.

»Das ist nicht ungewöhnlich«, sagte er, und ich war ihm dankbar für seine beruhigenden Worte. »Mr Lang, ich werde mir jetzt Ihre Wunde ansehen.« Eine Schwester kam herein, und die nächsten Minuten waren nicht sehr angenehm. Tolliver wirkte erschöpft, als er wieder frisch verbunden war.

»Alles sieht gut aus«, sagte Dr. Spradling knapp. »Mr Lang, Sie erholen sich wie erhofft.«

»Ich fühle mich hundeelend«, sagte Tolliver, weniger aus Selbstmitleid, sondern aus Sorge.

»Eine Schussverletzung ist keine Kleinigkeit«, sagte Dr. Spradling und lächelte mich vorsichtig an. »Das ist nicht so wie im Fernsehen, Mr Lang, wo die Leute sofort aus dem Krankenhausbett springen und die Verfolgung wieder aufnehmen.«

Vermutlich hatte Tolliver das nicht verstanden, denn er sah den Arzt verwirrt an. Spradling wandte sich an mich. »Ich nehme an, dass er morgen auch noch hier sein wird, und dann warten wir den nächsten Tag ab. Vielleicht braucht er eine Physiotherapie wegen der Schulter.«

»Aber er wird seinen Arm wieder ganz normal benutzen können?«, fragte ich, als mir klar wurde, dass ich mir viel mehr Sorgen hätte machen müssen.

»Wenn alles weiterhin gut geht, wahrscheinlich schon.«

»Oh«, sagte ich, bestürzt über die fehlende Gewissheit. »Was kann ich für ihn tun?« Dr. Spradling sah genauso verwirrt aus wie Tolliver. Er schien nicht zu glauben, dass ich viel für Tolliver tun konnte, außer seine Rechnung zu bezahlen. »Jetzt kommt es ganz auf ihn an«, sagte Dr. Spradling. »Auf Ihren Partner.«

Ich glaube, an diesem Tag hielt ich generell nicht viel von Ärzten, da mir keiner eine eindeutige Antwort geben konnte. Vom Verstand her wusste ich, dass Dr. Spradling einfach nur vernünftig und realistisch war. Mein Verstand sagte mir auch, dass ich ihm dafür dankbar sein musste. Aber meine Gefühle waren stärker.

Ich schaffte es, mich zu beherrschen, und Dr. Spradling verschwand mit einem fröhlichen Winken. Tolliver machte nach wie vor einen verwirrten Eindruck, döste aber wieder ein. Seine Lider flatterten, wenn es Lärm auf dem Flur gab, aber so richtig öffnete er die Augen nicht. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich stand an seinem Bett, sah Tolliver an und versuchte, einen Plan zu schmieden, als Victoria Flores nach einem kurzen Klopfen hereinkam.

Victoria war Ende dreißig. Die frühere Polizeibeamtin Texarkanas war gut gebaut und gut aussehend. Ich hatte Victoria nie anders als im Kostüm und mit hohen Schuhen gesehen. Sie besaß ihren ganz eigenen Dresscode. Victorias dunkles, dickes Haar war zu einem schulterlangen Pagenschnitt geglättet worden, und schwere goldene Kreolen schmückten ihre Ohren. Heute war ihr Kostüm von mattem Rot, darunter trug sie eine eierschalenfarbene Bluse.

»Wie geht es ihm?«, fragte sie und wies mit dem Kinn zu der reglosen Gestalt im Bett. Keine Umarmung, kein Händedruck, keine lange Vorrede. Victoria kam direkt zur Sache.

»Er ist ziemlich schwer verletzt«, sagte ich. »Sein Schlüsselbein wurde zerschmettert.« Ich tippte auf mein eigenes Schlüsselbein. »Aber der Arzt, der gerade da war, meinte, dass Tolliver wieder gesund wird, wenn er Physiotherapie macht. Wenn alles gut geht.«

Victoria schnaubte. »Wie ist das passiert?«

Ich erzählte es ihr.

»Was war euer letzter Fall?«, wollte sie wissen.

»Die Joyces.«

»Ich treffe mich heute Vormittag mit ihnen.«

Ich erzählte ihr nicht, was auf dem Friedhof vorgefallen war, weil mir die Joyces das nicht erlaubt hatten. Aber ich erzählte Victoria in groben Zügen, wie wir die Zeit verbracht hatten. Sie wusste auch, dass sie uns im Motel besucht hatten.

»Das muss der Grund für die Schießerei gewesen sein«, sagte Victoria. »Und der Auftrag davor?«