Jetzt wurde ich langsam wirklich sauer. Ich atmete tief durch. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Tolliver schon auf dem Weg zu mir war, er wirkte alarmiert. Chip Moseley dagegen hatte sich zum Jeep zurückgezogen und stützte sich schmerzgekrümmt darauf ab. Ich begriff, dass es ihm gar nicht gefallen würde, wenn ich die Aufmerksamkeit darauf lenkte.
»Sie haben mich genau hierfür angeheuert«, sagte ich und hob die Hände. »Da lässt sich nichts nachweisen, nicht einmal, wenn Sie Ihren Großvater obduzieren lassen würden. Aber ich habe Sie vorgewarnt, dass genau das passieren kann. Die Sache mit Mariah Parish dagegen können Sie selbstverständlich überprüfen, wenn Sie mir tatsächlich misstrauen. Es müsste eine Geburtsurkunde oder andere Unterlagen geben.«
»Stimmt«, sagte Lizzie schon ein gutes Stück nachdenklicher und weitaus weniger aufgebracht. »Aber mal abgesehen davon, was mit Mariahs Baby passiert ist, falls sie denn wirklich eines hatte, wird mir ganz schlecht bei dem Gedanken, dass jemand meinem Großvater so etwas antun konnte. Vorausgesetzt, Sie sagen wirklich die Wahrheit.«
»Sie können mir glauben oder auch nicht, das liegt ganz bei Ihnen. Wussten Sie von seiner Herzschwäche?«
»Nicht direkt, denn er ging nur selten zum Arzt. Aber er hatte bereits einen Infarkt hinter sich. Und nachdem er sich das letzte Mal durchchecken ließ, wirkte er besorgt.« Das war ihr seit dem Tod ihres Großvaters offensichtlich schon öfter durch den Kopf gegangen.
»Er hatte ein Handy in seinem Jeep, stimmt’s?«, fragte ich.
»Ja«, meinte sie. »Das stimmt.«
»Er hat versucht, danach zu greifen.« Manche letzten Momente sind aufschlussreicher als andere.
Ich warf einen flüchtigen Blick zu Tolliver hinüber und sah anschließend gleich wieder weg. Seine Schultern entspannten sich. Man würde uns in Ruhe lassen.
»Glaubt ihr etwa diesen Unsinn?«, fragte Chip die Schwestern fassungslos. Er hatte sich wieder von seiner merkwürdigen Schmerzattacke erholt und stand jetzt neben Lizzie. Er sah sie an, als sähe er sie zum ersten Mal, obwohl ich dank unserer Recherchen wusste, dass sie bereits seit sechs Jahren ein Paar waren.
Lizzie war zu selbstbewusst, um sich verunsichern zu lassen. Sie wirkte sehr nachdenklich, als sie eine Zigarette hervorzog und anzündete. Schließlich sah sie ihn an. »Ja, ich glaube ihr.«
»Ach du Scheiße!«, sagte Kate Joyce, nahm ihren Cowboyhut ab und schlug sich damit auf ihren schlanken Oberschenkel. »Als Nächstes schleppst du uns noch Hellseher an!«
Lizzie warf ihrer Schwester einen warnenden Blick zu, der alles andere als liebevoll war. Drexell sagte: »Wenn du mich fragst, hat sie sich das alles bloß ausgedacht.«
Wir hatten eine Anzahlung von Lizzie bekommen. Wir waren sowieso nach Texas unterwegs, hätten dort aber nie angehalten, wenn wir keinen Vorschuss bekommen hätten. Interessanterweise ändern reiche Kunden ihre Meinung oft. Arme nicht. Obwohl wir den ersten Scheck von der RJ Ranch bereits eingelöst hatten, stand das restliche Honorar noch aus. Sogar ein Blinder konnte sehen, dass die Joyce-Truppe so ihre Zweifel an meiner Leistung hatte. Doch bevor ich mir darüber den Kopf zerbrechen konnte, zog Lizzie einen zusammengefalteten, zerknitterten Scheck aus ihrer Hosentasche und gab ihn Tolliver, der nahe genug gekommen war, um den Arm um mich zu legen. Mir war ein wenig zittrig. Diesmal war es nicht so schlimm gewesen wie in anderen Fällen, da Rich Joyce nur eine kurze Schrecksekunde erlebt hatte, bevor er gestorben war. Aber der direkte Kontakt mit den Toten ist anstrengend.
»Brauchst du etwas Süßes?«, fragte er.
Ich nickte. Er zog ein Sahnebonbon aus der Tasche und wickelte es aus seinem Papier. Ich machte den Mund auf, und er legte es mir auf die Zunge. Goldener Butterschmelz.
»Ich dachte, er wäre Ihr Bruder!«, sagte Kate Joyce und wies mit dem Kinn auf Tolliver. Obwohl sie erst Ende zwanzig war, schien sie deutlich mehr Lebenserfahrung zu besitzen. Ob das wohl eine Folge davon war, als Kind reicher, aber arbeitsamer Eltern in Texas aufzuwachsen? Oder war das Leben der Joyces aus anderen Gründen anstrengend?
»Das ist er auch«, sagte ich.
»Er wirkt aber eher wie Ihr Freund.« Drexell kicherte.
»Ich bin ihr Stiefbruder und ihr Freund, Drex«, sagte Tolliver liebenswürdig. »Gut, wir fahren dann wieder. Schön, dass wir Ihnen weiterhelfen konnten.« Er nickte ihnen zu. Tolliver ist etwa 1,80 Meter groß und dünn. Aber er hat ziemlich breite Schultern.
Ich liebe ihn mehr als alles auf der Welt.
Das Rauschen der Dusche weckte mich. Wir sehen dermaßen viele Motelzimmer von innen, dass ich manchmal mehrere Sekunden brauche, bis mir klar wird, wo ich gerade bin. Das war wieder so ein Morgen.
Texas. Nachdem wir die Joyces verlassen hatten, waren wir fast den ganzen Nachmittag unterwegs gewesen, um dieses unweit der Autobahn gelegene Motel in Garland bei Dallas zu erreichen. Doch diesmal handelte es sich nicht um eine Geschäfts-, sondern um eine Privatreise.
Als ich die Augen öffnete, wusste ich, dass ich zu viel über unsere schlimme Vergangenheit nachdachte. Jedes Mal, wenn wir meine Tante und ihren Mann in der Nähe von Dallas besuchen, kommen die schlimmen Erinnerungen wieder hoch.
Aber das liegt nicht an dem Bundesstaat.
Wenn ich bei meinen kleinen Schwestern bin, muss ich wieder an den kaputten Wohnwagen in Texarkana denken. Der, in dem Tolliver und ich mit seinem Vater, meiner Mutter, seinem Bruder, meiner Schwester und unseren beiden gemeinsamen Geschwistern lebten. Als die Familie auseinanderbrach, waren sie mehr oder weniger noch Babys.
Das ausgeklügelte Täuschungsmanöver, das wir größeren Kinder mehrere Jahre aufrechterhalten hatten, war aufgeflogen, als meine ältere Schwester Cameron verschwand. Da waren unsere unschönen familiären Verhältnisse an die Öffentlichkeit gelangt, woraufhin man uns unsere kleinen Schwestern weggenommen hatte. Tolliver war zu seinem Bruder Mark gezogen, und ich war in eine Pflegefamilie gekommen.
Die beiden kleinen Mädchen konnten sich nicht mal mehr an Cameron erinnern. Ich hatte sie beim letzten Besuch danach gefragt. Die Mädchen lebten bei Tante Iona und Onkel Hank, die uns ungern besuchen. Aber wir besuchen sie. Mariella und Grace, genannt Gracie, sind unsere Schwestern, und sie sollen wissen, dass wir auch ihre Familie sind.
Ich stützte mich auf, um Tolliver beim Abtrocknen zuzusehen. Er hatte die Badezimmertür beim Duschen aufgelassen, denn sonst beschlug der Spiegel so sehr, dass er sich nicht mehr rasieren konnte.
Wir sehen uns ähnlich. Wir sind beide dünn und dunkelhaarig. Unser Haar ist sogar etwa gleich lang. Seine Augen sind braun, meine dunkelgrau. Aber Tollivers Haut ist voller Aknenarben, weil ihn sein Vater nicht zum Dermatologen schicken wollte. Sein Gesicht ist schmaler, und er trägt oft einen Schnurrbart. Er hasst es, etwas anderes als Jeans und Hemden anzuziehen, während ich mich gern ein bisschen hübsch mache. Schließlich besitze ich die »Gabe«, und da erwartet man das mehr oder weniger von mir. Tolliver ist mein Manager, mein Berater, mein Halt und seit einigen Wochen auch mein Liebhaber.
Er drehte sich zu mir um und merkte, dass ich ihm zusah. Er lächelte und ließ das Handtuch sinken.
»Komm her!«, sagte ich.
Er gehorchte sofort.
»Wollen wir eine Runde laufen?«, fragte ich am Nachmittag. »Danach kannst du gemeinsam mit mir duschen. Damit wir nicht so viel Wasser verschwenden.«
Im Nu hatten wir unsere Laufklamotten an und rannten nach ein paar Dehnübungen los. Tolliver ist schneller als ich. Meist läuft er auf den letzten achthundert Metern voraus, so auch dieses Mal.
Wir waren froh, einen guten Platz zum Laufen gefunden zu haben. Unser Motel lag direkt am Autobahnzubringer. In der näheren Umgebung gab es weitere Hotels, Motels, Restaurants und Tankstellen – die übliche Ansammlung von Dienstleistungsunternehmen für Leute, die viel unterwegs sind. Aber hinter dem Motel entdeckten wir eines dieser »Gewerbegebiete«: zwei gewundene Sträßchen mit sorgsam angelegten, noch niedrigen Bepflanzungen vor einstöckigen Gebäuden mit dazugehörigem Parkplatz. Zwischen den beiden Straßen gab es einen Grünstreifen, der breit genug war, um ein paar Kreppmyrten zu beherbergen. Es gab auch Bürgersteige, um das Gebiet einladender und freundlicher wirken zu lassen. Da es bereits später Freitagnachmittag war, herrschte nur wenig Verkehr zwischen den Betonkästen, die in gesichtslose Einheiten namens Great Systems Inc. und Genesis Distributors aufgeteilt waren. Firmen, hinter denen sich alles Mögliche verbergen konnte. Jeder Block wurde von einer Zufahrt begrenzt, von einer schmalen Straße, die höchstwahrscheinlich zu den Mitarbeiterparkplätzen führte. Davor standen so gut wie keine Autos, die Kunden waren weg, und die letzten Angestellten gingen ins Wochenende.