An so einem Ort erwartete ich wahrhaftig keine Leiche. Ich dachte an den Schmerz in meinem rechten Bein, der von Zeit zu Zeit wieder aufflammt, seit mich der Blitz getroffen hat. Deshalb hörte ich erst nicht, wie ihre Gebeine nach mir riefen.
Tote gibt es selbstverständlich überall. Ich höre nicht nur die modernen Toten. Ich nehme auch die längst Verstorbenen wahr, und selten, sehr selten, sogar das schwache Echo einer Spur, die Menschen vor Erfindung der Schrift hinterlassen haben. Aber der Kerl, mit dem ich hier in einem Vorort von Dallas Kontakt aufnahm, war noch ganz frisch. Ich lief einen Moment auf der Stelle.
Ich konnte mir nicht hundertprozentig sicher sein, bevor ich mich der Leiche näherte. Aber ich hatte so das Gefühl, dass es sich um einen Selbstmord durch Erschießen handelte. Ich ortete den Mann – er befand sich in den hinteren Räumen einer Firma namens Designated Engineering. Ich schüttelte seine innere Not von mir ab. Ich habe schließlich Übung darin. Ob ich ihn bemitleidete? Er hatte die Wahl gehabt. Wenn ich jeden bemitleiden würde, der über den Jordan gegangen ist, müsste ich wahrscheinlich andauernd heulen.
Nein, ich verschwende meine Zeit nicht an irgendwelche Gefühle. Ich überlegte, was ich tun sollte. Ich konnte ihn einfach liegen lassen und hatte das zunächst auch vor. Der Erste, der am nächsten Tag ins Büro von Designated Engineering käme, würde einen gehörigen Schrecken bekommen. Vorausgesetzt, die Angehörigen des Kerls schickten nicht die Polizei zu seiner Firma, wenn er nicht nach Hause kam.
Es kam mir brutal vor, ihn einfach so liegen zu lassen. Andererseits hatte ich keine Lust, der Polizei mühsam etwas erklären zu müssen.
Beim Auf-der-Stelle-Laufen wurde mir kalt. Ich musste mich entscheiden.
Obwohl ich mir nicht jeden Tod zu Herzen nehmen kann, mit dem ich es zu tun habe, möchte ich auch nicht unmenschlich sein.
Ich sah mich um und suchte nach einer Eingebung. Ich fand sie in den Steinen, die das fantasielose Blumenbeet am Eingang einfassten. Ich zog den größten Stein heraus, den ich gerade noch heben konnte. Nach einigen Versuchen beschloss ich, ihn einhändig zu werfen. Ich sah die Straße hinauf und hinunter. Es waren weder Autos noch Fußgänger in Sicht. In sicherer Entfernung suchte ich einen festen Stand und warf den Stein. Ich musste ihn zweimal aufheben und das Ganze wiederholen, bevor das Glas barst und die Alarmanlage losging. Ich rannte davon und musste der Polizei Respekt zollen: Kaum hatte ich den Motel-Parkplatz erreicht, verließ auch schon ein Streifenwagen den Autobahnzubringer, raste am Motel vorbei und nahm Kurs auf das Gewerbegebiet.
Eine Stunde später schminkte ich mich gerade vor dem Spiegel. Ich hatte ausgiebig geduscht, und natürlich war Tolliver noch mal zu mir in die Kabine gehüpft, um mir »beim Haarewaschen« zu helfen.
Ich beugte mich über das Waschbecken, um in den Spiegel zu starren und meinen Eyeliner aufzutragen. Obwohl ich erst vierundzwanzig war, musste ich inzwischen näher an den Spiegel heran. Bei der nächsten Augenuntersuchung würde mir mein Arzt bestimmt sagen, dass ich eine Brille brauchte. Ich bin nie eitel gewesen, doch die Vorstellung, eine Brille zu tragen, gab mir einen Stich. Vielleicht Kontaktlinsen? Aber bei dem Gedanken, mir was ins Auge zu tun, bekam ich Gänsehaut.
Immer wenn ich darüber nachdachte, fürchtete ich mich vor den Kosten für die Sehhilfe. Wir sparten jeden Cent für das Haus, das wir hier unweit von Dallas kaufen wollten. St. Louis war zwar beruflich geschickter, weil zentraler gelegen, aber wenn wir in Dallas wohnten, könnten wir unsere Schwestern öfter sehen. Iona und Hank wären wahrscheinlich wenig begeistert. Wer weiß, welche Hindernisse sie uns noch in den Weg legen würden. Sie hatten die Mädchen offiziell adoptiert. Aber vielleicht konnten wir sie davon überzeugen, dass es den Mädchen guttun würde, uns zu sehen. So wie es auch uns guttat, sie zu sehen.
Tolliver kam ins Bad und blieb kurz stehen, um mich auf die Schulter zu küssen. Ich lächelte, als sich unsere Blicke im Spiegel trafen.
»Unten auf der Straße ist Polizei zu sehen«, sagte er. »Hast du irgendeine Erklärung dafür?«
»Allerdings!«, sagte ich mit einem schlechten Gewissen. Ich hatte keine Gelegenheit gehabt, Tolliver alles zu erläutern, bevor ich unter die Dusche ging, und dann hatte er mich abgelenkt. Jetzt erzählte ich Tolliver die Sache mit dem Toten, dem Stein und dem Fenster.
»Die Cops dürften ihn mittlerweile gefunden haben, du hast also das Richtige getan. Lieber wäre es mir allerdings gewesen, du hättest ihn ignoriert«, sagte Tolliver.
Ich hatte nichts anderes erwartet. Er ließ sich nur ungern in Situationen verwickeln, bei denen unser Eingreifen nicht bezahlt wurde. Da ich ihn im Spiegel beobachtete, fiel mir auf, wie sich seine Körpersprache abrupt änderte. Anscheinend wollte er das Thema wechseln und etwas Wichtiges mit mir besprechen.
»Meinst du nicht auch, wir sollten einfach loslassen?«, fragte Tolliver.
»Loslassen?« Ich schminkte mein rechtes Auge fertig und hielt das Mascara-Bürstchen an die Wimpern meines linken Auges. »Was meinst du damit?«
»Mariella und Gracie.«
Ich drehte mich um und sah ihn an. »Ich verstehe nicht«, sagte ich, verstand ihn aber leider nur zu gut.
»Vielleicht sollten wir sie nur einmal im Jahr besuchen. Und ihnen ansonsten einfach nur Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke schicken.«
Ich war entsetzt. »Warum sollten wir das tun?« Sparten wir nicht deshalb jeden Cent, um ein fester Bestandteil ihres Lebens zu werden?
»Wir bringen sie völlig durcheinander.« Tolliver kam näher und legte seine Hand auf meine Schulter. »Die Mädchen mögen ihre Probleme haben, aber bei Iona geht es ihnen besser als bei uns. Wir können uns nicht um sie kümmern. Wir sind zu oft unterwegs. Iona und Hank sind verantwortungsbewusste Menschen, sie trinken keinen Alkohol und konsumieren keine Drogen. Sie nehmen die Mädchen mit in die Kirche und achten darauf, dass sie zur Schule gehen.«
»Das ist doch nicht dein Ernst?«, sagte ich, obwohl Tolliver nie scherzte, wenn es um Familienangelegenheiten ging. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. »Du weißt, dass ich nie vorhatte, die Mädchen da wegzuholen, selbst wenn das rechtlich möglich wäre. Meinst du wirklich, wir sollten unsere Besuche auf ein Minimum beschränken? Und sie noch seltener sehen?«
»Ja«, sagte er.
»Erklär mir das bitte.«
»Wenn wir kommen – nun, dann kommen wir in sehr unregelmäßigen Abständen und bleiben nur kurz. Wir reißen sie aus ihrem gewohnten Leben, versuchen ihnen Dinge zu zeigen, die ihnen fremd sind. Wir versuchen, sie für Sachen zu interessieren, die nicht Teil ihres Alltags sind. Und dann verschwinden wir wieder und überlassen es ihren ›Eltern‹, mit den Folgen fertig zu werden.«
»Mit den Folgen fertig zu werden? Mit was für Folgen, bitteschön? Wir sind doch keine Monster oder so was!« Ich musste mich schwer beherrschen, um nicht wütend zu werden.