»Beim letzten Mal – du weißt schon, als du mit den Mädchen ins Kino gegangen bist –, hat mir Iona erzählt, dass Hank und sie für gewöhnlich eine Woche brauchen, bis die Mädchen wieder normal sind.«
»Aber …« Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Ich schüttelte den Kopf, als könnte ich so meine Gedanken ordnen. »Sollen wir uns vielleicht ausschließlich nach Iona richten? Du bist der Bruder und ich die Schwester der Mädchen. Wir lieben sie. Sie müssen wissen, dass es in ihrer Familie auch andere Menschen als Iona und Hank gibt.« Ich wurde laut.
Tolliver setzte sich auf den Badewannenrand. »Harper, Iona und Hank ziehen sie groß. Sie hätten sie nicht bei sich aufnehmen müssen. Der Staat hätte sich um sie gekümmert, wenn sich Iona und Hank nicht angeboten hätten. Ich wette, das Gericht hätte Mariella und Gracie eher ins Heim gesteckt, als sie uns zu geben. Wir können froh sein, dass Iona und Hank den Versuch gewagt haben. Sie sind älter als die meisten mit Kindern in diesem Alter. Sie sind streng, weil sie Angst haben, dass die Mädchen so werden wie deine Mom oder mein Vater. Aber sie haben die Mädchen adoptiert. Sie sind ihre Eltern.«
Ich öffnete den Mund und schloss ihn gleich wieder. Es brach förmlich aus Tolliver heraus, und ich hörte Dinge, die ich noch nie zuvor gehört hatte.
»Natürlich sind sie engstirnig«, fuhr er fort. »Aber sie müssen Tag für Tag mit Gracie und Mariella zurechtkommen. Sie gehen zu den Lehrersprechstunden, sie gehen zum Direktor, sie sorgen dafür, dass die Mädchen ihre Spritzen bekommen, und sie bringen sie zum Arzt, wenn sie krank sind. Sie bestimmen, wann ins Bett gegangen und wann gelernt wird. Sie kaufen ihre Kleider. Sie zahlen für die Zahnspangen.« Er zuckte die Achseln. »Und so weiter. Wir könnten das gar nicht.«
»Was sollen wir dann deiner Meinung nach tun?« Ich verließ das Bad und setzte mich auf die Kante des ungemachten Bettes. Er kam mir nach und setzte sich neben mich. Ich legte meine Hände auf die Knie. Ich bemühte mich, nicht zu weinen. »Du willst also, dass wir unsere Schwestern im Stich lassen? Die einzige Familie, die wir noch haben?« Meinen oder Tollivers Vater zählte ich nicht mit, weil sie für mich einfach nicht dazugehörten.
Tolliver ging vor mir in die Hocke. »Vielleicht sollten wir sie an Thanksgiving und Weihnachten oder an Ostern beziehungsweise an ihren Geburtstagen besuchen … Dann, wenn man uns erwartet und wir uns rechtzeitig angekündigt haben. Maximal zweimal im Jahr. Ich finde, wir sollten mehr aufpassen, was wir in Gegenwart der Mädchen sagen. Gracie hat Iona erzählt, sie wäre deiner Meinung nach zu rigide. Nur leider hat Gracie ›frigide‹ gesagt.«
Ich versuchte, nicht zu grinsen, konnte aber nicht anders. »Na gut, in diesem Punkt hast du recht. Es ist nicht sehr nett, über diejenigen zu lästern, die sich um die Mädchen kümmern. Dabei dachte ich, ich passe auf.«
»Du hast dich bemüht«, sagte er schmunzelnd. »Es ist eher dein Gesichtsausdruck, der eine andere Sprache spricht …«
»Gut, ich verstehe, was du meinst. Aber ich dachte, wir könnten ihnen näherkommen, wenn wir hierher ziehen. Und ein paar Mauern zwischen Ina, Hank und uns einreißen. Wir könnten die Mädchen öfter sehen, die Situation würde sich entspannen. Vielleicht könnten die Mädchen manchmal das Wochenende bei uns verbringen. Iona und Hank wollen bestimmt auch mal allein sein.«
Tolliver reagierte darauf mit einem anderen Einwand. »Glaubst du wirklich, Iona könnte uns akzeptieren? Jetzt, wo wir zusammen sind?«
Ich verstummte. Dass wir jetzt ein Paar waren, würde meine Tante und ihren Mann schockieren, und das war noch milde ausgedrückt. Ich konnte sie sogar verstehen. Schließlich waren Tolliver und ich als Teenager zusammen aufgewachsen. Wir hatten unter einem Dach gelebt. Meine Mutter war mit seinem Vater verheiratet gewesen. Ich hatte ihn jahrelang als meinen Bruder vorgestellt. Manchmal nannte ich ihn immer noch so, aus alter Gewohnheit. Obwohl wir keine Blutsverwandten waren, hatte unsere sexuelle Beziehung für Außenstehende etwas Anstößiges. Wir wären naiv, wenn wir das nicht eingestehen würden.
»Keine Ahnung«, sagte ich aus reinem Widerspruchsgeist. »Vielleicht akzeptieren sie es einfach.« Aber ich machte mir etwas vor.
»Du machst dir etwas vor«, sagte Tolliver. »Du weißt genau, dass Hank und Iona ausflippen werden.«
Wenn Iona ausflippte, zürnte Gott. Wenn Iona etwas moralisch fragwürdig fand, war Gott derselben Meinung. Und Gott, verkörpert durch Iona, führte diesen Haushalt.
»Aber wir können doch nicht vor ihnen verheimlichen, was wir einander bedeuten«, sagte ich hilflos.
»Das müssen und werden wir auch nicht. Mal sehen, was passiert.«
Ich versuchte, das Thema zu wechseln, denn ich musste in Ruhe darüber nachdenken. »Wann besuchen wir Mark?« Mark Lang war Tollivers älterer Bruder.
»Wir treffen ihn voraussichtlich morgen Abend im Texas Roadhouse.«
»Oh, prima.« Ich schaffte es, zu lächeln, wenn auch nicht sehr überzeugend. Ich habe Mark immer gemocht, obwohl ich ihm nie so nahestand wie Tolliver. Er hatte uns alle damals so gut wie möglich beschützt. Wir schafften es nicht, Mark bei jedem Texasbesuch zu treffen, also freute ich mich, dass er Zeit hatte, mit uns zu Abend zu essen. »Und heute sind wir für eine kurze Stippvisite bei Iona eingeladen? Dort werden wir einfach sehen, was passiert, ohne jeden Plan?«
»Ohne jeden Plan«, bestätigte Tolliver, und wir lächelten uns an.
Ich versuchte, das Lächeln aufrechtzuerhalten, während wir ins Auto stiegen und zu dem kleinen Haus in Garland fuhren, in dem unsere Schwestern lebten. Obwohl das Wetter schön war, sagte ich keine rosigen Zeiten voraus.
Iona Gorham (geborene Howe) hatte strikt darauf geachtet, bloß nicht so zu werden wie Laurel. Laurel Howe Connelly Lang, meine Mutter, war Ionas einzige, zehn Jahre ältere Schwester gewesen. Als meine Mutter noch ein Teenager und Twen war und keine Drogen nahm, war sie ziemlich attraktiv, beliebt und bestimmt kein Kind von Traurigkeit gewesen. Sie hatte auch gute Noten gehabt und Jura studiert. Dort hatte sie meinen Dad, Cliff Connelly, kennengelernt und ihn geheiratet. Meine Mutter war schon immer ein rechter Wildfang gewesen – na gut, ein extremer Wildfang –, aber eben auch extrem erfolgreich.
Um mit ihr mithalten und sich von ihr abgrenzen zu können, hatte Iona den braven, gottesfürchtigen Weg gewählt.
Als ich in Ionas Gesicht sah, während sie uns aufmachte, stellte ich fest, dass sie heute nicht ganz so säuerlich wirkte wie sonst, und ich fragte mich, warum. Normalerweise sah sie bei unseren Besuchen aus, als hätte sie soeben in eine Zitrone gebissen. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie alt Iona war, und entschied, dass sie knapp vierzig sein musste.
»Kommt herein«, sagte meine Tante und trat einen Schritt zurück in ihr Wohnzimmer.
Ich hatte stets das Gefühl, nur widerwillig hereingebeten zu werden, ja, dass uns Iona am liebsten die Tür vor der Nase zugeknallt hätte. Ich bin 1,70 Meter groß, und meine Tante ist kleiner als ich. Iona hat wohlgeformte Rundungen, und ihre Haare werden auf eine attraktive Weise grau, so als würde ihr hellbraunes Haar einfach verblassen. Ihre Augen sind dunkelgrau wie meine.
»Wie geht es dir?«, fragte Tolliver höflich.
»Prächtig«, sagte Iona, und uns fiel gleichzeitig die Kinnlade herunter. Nie hat Iona auch nur ansatzweise so etwas gesagt. »Hank leidet gerade wieder sehr unter seiner Arthritis«, fuhr sie fort, ohne unsere Reaktion zu beachten, »aber er kann Gott sei Dank zur Arbeit gehen.« Iona arbeitete Teilzeit bei Sam’s Club, und Hank leitete die Fleischabteilung eines Wal-Mart-Supercenters.
»Wie machen sich die Mädchen so in der Schule?«, stellte ich meine Standardfrage. Ich zwang mich weiterhin, nicht zu Tolliver hinüberzusehen. Ich wusste, dass er genauso geplättet war wie ich. Iona ging uns voraus in die Küche, wo wir uns normalerweise unterhielten. Das Wohnzimmer hob Iona für echte Freunde auf.