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Es schien zwar unglaublich, aber ich war fest davon überzeugt, dass zwei solche Vorfälle nicht so rasch aufeinander folgen können, ohne dass es da einen Zusammenhang gibt. Auch wenn ich noch nicht wusste, welchen. Und erst recht nicht, wenn ein und derselbe Mann in beide Vorfälle verwickelt war.

Reagierte ich einfach nur übertrieben? Ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, obwohl ich fast blind war vor Wut. Mein Stiefvater wusste etwas über die Joyces. Er wusste genug, um den Namen des Arztes zu kennen, der Mariah Parish »behandelt« hatte.

Er wusste Bescheid. Vermutlich wusste er auch, was meiner Schwester zugestoßen war. Und hatte das all die Jahre vor mir verheimlicht.

Ich spürte es bis tief in die Knochen.

Ich konnte nicht ins Wohnzimmer gehen und ihn mir vorknöpfen. Er war mir körperlich überlegen. Tolliver würde nicht zulassen, dass ich seinen Vater umbrachte. Wahrscheinlich nicht einmal Manfred, der nicht persönlich betroffen war und sich verpflichtet fühlen würde, einzugreifen. Aber Tolliver war schwach und verletzt, und Manfred würde irgendwann gehen.

Ich musste mich schwer zusammenreißen, nicht mehr ernsthaft darüber nachzudenken, wie ich meinen Stiefvater umbringen konnte.

Ich konnte mich schließlich irren, was ich jedoch für wenig wahrscheinlich hielt. Aber was noch viel schwerer wog, war, dass ich einfach nicht genug wusste. Ich wollte die letzte Ruhestätte meiner Schwester finden. Ich wollte wissen, was Cameron zugestoßen war.

Und deswegen musste ich mich überwinden, Matthews Anwesenheit zu erdulden.

Ich zwang mich dazu, allein in der Dunkelheit. Ich zwang mich, stark zu sein. Dann stand ich auf, machte das Licht an und wusch mir das Gesicht. So als könnte ich damit mein neu erworbenes Wissen wegwaschen und mich in den Zustand glücklicher Ahnungslosigkeit zurückversetzen.

Ich betrat das Wohnzimmer, musste aber ganz langsam gehen. Ich kam mir vor, als hätte man mir einen Stoß zwischen die Rippen versetzt. Ich fühlte mich zerbrechlich und war innerlich ganz wund wegen des Misstrauens und des Hasses, die ich mit mir herumtrug.

Ich spürte sofort, dass Matthew Manfred zum Gehen bewegen wollte, damit er allein mit seinem Sohn sprechen konnte. Doch Manfred hatte nicht gehen wollen, bevor er noch einmal mit mir geredet hatte. Er sah von Matthew zu mir, als ich den Raum betrat, und fröstelte. Was auch immer Manfred gesehen hatte –Tolliver und Matthew blieb es glücklicherweise verborgen.

»Manfred«, sagte ich. »Tut mir leid, dass ich dich so lange allein gelassen habe. Und danke, dass du mich heute begleitet hast.«

»Gern geschehen«, sagte Manfred und sprang dermaßen eifrig auf, dass ich merkte, wie wild er darauf war, dieses Hotelzimmer zu verlassen. »Wollen wir noch einen Kaffee zusammen trinken? Oder soll ich dich zum Einkaufen fahren? Hast du noch genügend … Kartoffelchips?«

Hier hatte er schlecht geraten. Wir aßen niemals Kartoffelchips. Meine Mundwinkel kräuselten sich. »Danke, Manfred.« Ich rang kurz mit mir. Manfred wollte unsere neu gewonnenen Erkenntnisse über Matthew mit mir besprechen. Aber ich wusste selbst noch nicht, was ich diesbezüglich unternehmen wollte. Deshalb wartete ich tunlichst mit dem Tête-à-Tête, bis ich einen Plan hatte. »Ich bleibe lieber hier, falls Tolliver mich braucht.«

Ich umarmte ihn spontan, und er fühlte sich zerbrechlich an. Zögernd erwiderte er meine Umarmung. Er musste sich noch von der hellseherischen Vision erholen, die er von mir gehabt hatte. Wenn er auch nur ansatzweise gesehen hatte, wie ich mich fühlte, hatte er etwas Furchtbares, Mörderisches gesehen. »Tu es nicht!«, flüsterte er mir ins Ohr. Dann ließ ich ihn los, und er trat einen Schritt zurück.

»Mach dir keine Sorgen, wir kommen schon zurecht«, versicherte ich ihm. »Ich rufe dich an, wenn ich Hilfe brauche, das verspreche ich dir.«

»Na gut. Ich habe heute Nachmittag noch ein paar Termine. Aber mein Handy steckt stets aufgeladen in meiner Tasche. Tschüs, Tolliver. Mr Lang.« Mit einem letzten, intensiven Blick in meine Augen verließ Manfred das Zimmer und eilte den Flur hinunter, ohne sich noch einmal umzusehen.

»Ein komischer Typ!«, sagte Matthew. »Hast du viel mit solchen Leuten zu tun, Tolliver? Das muss ein Freund von dir sein, Harper.«

»Er ist tatsächlich ein Freund von mir«, sagte ich. »Und mit seiner Großmutter war ich ebenfalls befreundet.« Ich fühlte mich wirklich merkwürdig, so als stünde ich neben mir. Matthew saß bei Tolliver auf dem Sofa, also nahm ich den Sessel. Ich schlug die Beine übereinander und schlang die Hände um mein Knie. »Heute Morgen war das Wetter wirklich scheußlich, stimmt’s, Matthew?«

Er sah mich überrascht an. »Ja, der Verkehr war furchtbar. Aber so ist das nun mal in Dallas. Und dann noch der Regen.«

»Hattest du heute Vormittag etwas zu erledigen?«

»Oh ja, so dies und das. Um halb drei muss ich in der Arbeit sein.«

Arbeitete er tatsächlich bei McDonald’s? Oder traf er sich mit einem der Joyces? Hatte er schon immer in ihren Diensten gestanden?

Und der Mann, den ich über alles liebte, der einzige, den ich aufrichtig liebte, war der Sohn dieses Mannes.

Tolliver mochte Probleme damit haben, aber mir war das egal. Ich weiß besser als jeder andere, dass man von den Kindern nicht auf die Eltern schließen darf. Ich war von derselben Frau großgezogen worden, die ihre zwei kleinen Töchter so sehr vernachlässigt hatte, dass ihre älteren Kinder sich um sie kümmern mussten.

Ich war der Meinung, dass ich etwas wohlgeratener war als meine Mutter.

Aber wenn ich Matthew Lang tötete – wäre ich dann wirklich noch besser als meine Mutter?

Nun, wenigstens hätte ich meine Entscheidung bei klarem Verstand gefällt.

Das wohl kaum!, sagte mein vernünftigeres Selbst. Erstickst du nicht förmlich an deinem Hass?

Das stimmte. Aber war es nicht besser, jemanden umzubringen, wenn man ihn so sehr hasste? Oder war es tugendhafter, zu warten, bis man ruhig und beherrscht war?

Dann hätte ich auf jeden Fall mehr Chancen, ungeschoren davonzukommen und ein Leben mit Tolliver zu führen, anstatt mich mit einem Haufen Frauen im Gefängnis anzufreunden. Genauso hatte das Leben meiner Mutter geendet … und ich war nicht so wie meine Mutter. Auf gar keinen Fall.

Ich muss ein ziemlich merkwürdiges Gesicht gemacht haben, während mir das alles durch den Kopf ging, auch wenn es kein fortlaufender Gedankenstrom, sondern eher Gedankenblitze waren.

Tollivers Mimik nach zu urteilen, hätte er mich gern gefragt, ob alles in Ordnung sei. Doch vor Matthew verzichtete er lieber darauf. Dieser hatte sich an Tolliver gewandt und kehrte mir Gott sei Dank überwiegend den Rücken zu.

Ich versuchte, mich auf ihr Gespräch zu konzentrieren. Matthew fragte Tolliver, ob er je daran gedacht habe, sein Studium abzuschließen. Was er davon halte, auf eines der vielen Colleges in Dallas zu gehen, wenn wir hierher zogen. Und dass Tolliver bestimmt einen guten Job fände, wenn er erst mal seinen Abschluss hätte. Dann wäre er auch nicht mehr von mir abhängig.

Matthew wollte eindeutig einen Keil zwischen uns treiben. Tolliver war empört. »Ich bin nicht von Harper abhängig«, sagte er.

»Du hast keinen Job, außer dem, sie zu begleiten, während sie … was auch immer«, sagte sein Dad.

»Ich sorge dafür, dass sie ihren Job erledigen kann«, sagte Tolliver. Ich merkte, dass dieses Gespräch nicht zum ersten Mal geführt wurde, nur dass ich vorher nie dabei gewesen war. Mein Hass wuchs ins Unermessliche. »Würde ich Harper nicht begleiten, könnte sie diese Arbeit gar nicht machen.«

»Er hat vollkommen recht«, sagte ich. »Mir wird schlecht von meiner Arbeit, und ohne Tolliver wäre ich dem hilflos ausgeliefert«, erklärte ich so sachlich wie möglich. Ich wollte mich nicht verteidigen, wo es nichts zu verteidigen gab.