»Du kannst dir viel einreden«, sagte Matthew zu Tolliver und überhörte meinen Einwurf. »Aber letztlich muss sich jeder selbst behaupten.«
»So wie du?«, fragte ich. »Indem du Drogen verkauft und zugelassen hast, dass deine Frau mich an den Meistbietenden verhökert? Hast du dich behauptet, indem du deine Anwaltskanzlei aufgegeben hast und stattdessen im Gefängnis gelandet bist?«
Matthew wurde rot. Jetzt konnte er mich nicht länger ignorieren. »Harper, ich versuche nur, ein guter Vater zu sein. Ich weiß, dass es dafür zu spät ist. Und ich weiß auch, dass ich abscheuliche Dinge getan habe, von denen mir noch im Nachhinein schlecht wird. Aber ich versuche, die Beziehung zu meinem Sohn zu retten. Ich weiß, dass er dich ›liebt‹, aber manchmal solltest du dich lieber um deine eigenen Angelegenheiten kümmern und mich in Ruhe mit ihm reden lassen.«
Dabei setzte er das Wort ›liebt‹ hörbar in Anführungszeichen.
Tolliver sagte: »Harper soll sich nicht um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Ich liebe sie. Es ist zu spät, und du hast Dinge getan, von denen uns allen kotzübel wurde. Wenn ich nicht da gewesen wäre, hättest du Harper glatt sterben lassen, als sie der Blitz traf.«
Eine Welle der Erleichterung durchflutete mich. Tief in meinem Innern nagte die Angst, dass Tolliver eines Tages doch noch auf seinen Dad hören, ihm glauben und sich wieder von ihm an der Nase herumführen lassen könnte.
»Wenigstens Mark hört mir zu«, sagte Matthew und stand auf.
Er stand kurz davor zu gehen, ohne dass ich ihn umgebracht hatte. Ich ließ ihn entkommen.
Aber mir blieb nichts anderes übrig. Ich hatte nur meine bloßen Hände zur Verfügung. Außerdem musste ich herausfinden, was er mit Cameron gemacht und warum er es getan hatte. Ich glaube nicht, dass er Cameron sexuell begehrte. Einige seiner Freunde hatten Sex mit uns haben wollen, aber nicht Matthew. Zumindest in dieser Hinsicht war ich mir ziemlich sicher. Aber irgendeinen Grund musste es schließlich geben, und ich wollte ihn herausfinden. Ich stand auf und hatte die Hände zu Fäusten geballt. Ich wusste nicht, ob ich auf ihn einschlagen sollte oder nicht.
Matthew spürte meine Feindseligkeit. Wenn man länger im Gefängnis gesessen hat, besitzt man eine Antenne dafür. Auf dem Weg zur Tür blieb er bewusst auf Distanz. »Keine Ahnung, was heute mit dir los ist, Harper. Ich versuche nur, etwas wiedergutzumachen.«
»Aber das geht leider nicht«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
»Ja«, erwiderte er mit einem nervösen Lachen. »Das habe ich auch schon gemerkt. Wir reden ein andermal weiter, mein Sohn. Ich hoffe, es geht dir bald besser. Ruf mich an, wenn du mich brauchst.« Dann verließ er den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Er lebte immer noch.
»Setz dich zu mir«, sagte Tolliver so leise, dass ich ihn kaum hörte. »Setz dich zu mir und sag mir, was in dir vorgeht.«
»Er war in dem Gebäude, in dem sich auch die Arztpraxis befindet«, sagte ich. »Dein Vater war dort, heute Vormittag. Er verließ gerade die Lobby, als wir hereinkamen.«
Ich blieb stehen und wartete, bis Tolliver diese Information verdaut hatte. Dann klopfte er neben sich auf das Sofa, und ich setzte mich zu ihm. »Dann wollen wir mal überlegen«, sagte er, und ich hätte Purzelbäume schlagen können vor Freude, weil er mich blind verstand.
Ich erzählte Tolliver von Dr. Bowden. Ich schilderte ihm die Geschichte des Arztes und kommentierte sie. Und er hörte mir Gott sei Dank zu. Er hörte sich jedes Wort an, ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen. Von seiner Gereiztheit war nichts mehr zu spüren. Ich sagte ihm, wie froh ich gewesen war, dass Manfred mich begleitet und dieselbe Geschichte gehört hatte wie ich, da ich ihr sonst kaum Glauben geschenkt hätte.
»Und warum wolltest du deswegen meinen Dad umbringen?«
»Weil ich nicht an solche Riesenzufälle glaube. Was hatte Matthew in diesem Bürogebäude zu suchen? Bestimmt hat er Tom Bowden besucht. Und woher kennt er den? Es muss irgendeine Verbindung zwischen ihm und den Joyces geben, oder zumindest zwischen ihm und dem Familienmitglied, das Mariahs Schwangerschaft und die Geburt des Kindes geheim halten wollte.«
»Meinst du wirklich?«, wandte Tolliver ein. »Muss Dad wirklich mit einem oder mehreren Joyces unter einer Decke stecken? Wir wissen nicht, wer den Arzt in jener Nacht zur Ranch gebracht hat. Aber wir wissen, dass Chip Moseley schon einmal in Texarkana verhaftet wurde, zumindest geht das aus Victorias Unterlagen hervor. Er war also bestimmt öfter dort. Und wenn das stimmt, was Tom Bowden sagt, wissen wir auch, dass die Joyces ein paar Ärzte dort hatten. Also besaßen auch sie Verbindungen dorthin. Das ist kein sehr überzeugender Anknüpfungspunkt, aber immerhin ein Anknüpfungspunkt.«
»Und als wir die Joyces trafen, kamen mir beide Männer irgendwie bekannt vor.«
»Chip und Drex?«
Ich nickte. »Ich weiß, dass das nicht sehr aussagekräftig ist, weil ich den Grund dafür nicht benennen kann. Aber die meisten Leute, an die ich mich nur noch vage erinnern kann, kamen zum Wohnwagen. Und ich hasse es, mich an diese Zeit zu erinnern. Außerdem habe ich damals versucht, bewusst wegzusehen, weil es gefährlich war, zu wissen, wer Drogen kauft und verkauft.«
»Ja«, sagte Tolliver mit Nachdruck. »Das war gefährlich, und zwar jeden Tag aufs Neue, solange wir dort wohnten.«
»Deshalb glaube ich, dass dein Dad in die Sache verwickelt ist. Ich frage mich, ob er sich bei Mark gemeldet hat, damit der Kontakt zu dir aufnimmt.«
Tolliver überlegte. »Das kann schon sein«, sagte er. »Denn ich hätte weder seine Briefe noch seine Anrufe beantwortet. Gut möglich, dass er Mark nur benutzt hat.« Tollivers Gesicht zeigte Schmerz. Noch bis jetzt hatte er einen Funken Hoffnung gehabt, dass sein Dad versuchte, das Richtige zu tun, ja, dass sich Matthew wirklich geändert hatte.
»Aber was ist passiert?«, fragte ich frustriert. »Warum hat er sich mit den Joyces eingelassen? Und wie wurde Cameron da mit hineingezogen?«
»Cameron? Warum sollte mein Dad Cameron etwas antun?« Tolliver schüttelte den Kopf. »Er hatte ein Alibi, vergiss das nicht. Als die alte Frau sah, wie Cameron in den Truck stieg, spielte Dad mit diesem Arschloch und seiner Freundin Billard.«
»Ich kann mich noch an den Kerl erinnern«, sagte ich. »Aber jetzt ab ins Bett mit dir! Wir können morgen weiterreden.«
17
Tolliver war erschöpft und wie betäubt. Ich musste ihm helfen, ins Bett zu klettern. Ich rief den Zimmerservice an und bestellte Suppe und Salat. Dann setzte ich mich auf die Bettkante, und wir warteten auf das Essen.
»Matthew ist zu vielem fähig«, sagte er, »aber ich glaube nicht, dass er Cameron etwas angetan hat.«
»Der Gedanke ist mir auch noch nie gekommen«, sagte ich. »Ehrlich gesagt, möchte ich es auch nicht glauben. Aber wenn er etwas mit ihrem Verschwinden zu tun und uns all die Jahre im Unklaren gelassen hat, will ich ihn tot sehen.« Bei Tolliver brauchte ich nicht zu fürchten, dass er die Aussage in den falschen Hals bekäme. Er kannte mich. Und jetzt kannte er mich noch ein bisschen besser.
Tolliver verstand. »Wenn er Cameron etwas angetan hat, hätte er es verdient, zu sterben«, sagte er. »Aber es gibt nichts, was ihn mit Camerons Verschwinden in Verbindung bringt. Außerdem hatte er keinerlei Motiv. So gesehen haben wir keinen Beweis dafür, dass er in die Sache mit den Joyces verwickelt ist. Wir brauchen mehr als die Rückenansicht eines Mannes, der ein öffentliches Gebäude verlässt.«
»Verstehe«, sagte ich – und ich verstand ihn wirklich. »Also müssen wir der Sache tiefer auf den Grund gehen. Wir können schließlich nicht so tun, als wenn nichts wäre.«
»Ja«, sagte Tolliver und schloss die Augen. Zu meiner Überraschung schlief er ein.