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Ich aß allein zu Abend, ließ ihm aber etwas übrig, falls er wieder aufwachte und doch etwas essen wollte. Nachdem ich meinen Salat intus hatte, tat ich etwas, das ich bestimmt schon seit einem Jahr nicht mehr getan hatte: Ich ging zu unserem Wagen, öffnete den Kofferraum und holte den Rucksack meiner Schwester heraus. Zurück auf unserem Zimmer setzte ich mich aufs Sofa und machte ihn auf. Wir fanden ihn so niedlich, als Cameron ihn sich aussuchte. Er war pink mit schwarzen Pünktchen. Cameron hatte eine schwarze Jacke und schwarze Stiefel aufgetrieben und sah fantastisch darin aus. Niemand brauchte zu wissen, dass alles aus einem Secondhandladen stammte.

Die Polizei hatte uns den Rucksack schließlich überlassen, nach sechs Jahren. Man hatte ihn auf Fingerabdrücke untersucht, sein Innerstes nach außen gekehrt, ihn unter dem Mikroskop betrachtet … Soweit ich wusste, hatte man ihn sogar geröntgt.

Cameron müsste jetzt knapp sechsundzwanzig sein. Sie war seit fast acht Jahren verschwunden.

Es war Spätfrühling, als sie entführt wurde. Sie hatte die Sporthalle der Schule für den Abschlussball dekoriert. Sie hatte eine Verabredung gehabt, und zwar mit – oh Gott, ich konnte mich nicht mehr an seinen Namen erinnern. Mit Todd? Ja, mit Todd Battista. Keine Ahnung, ob ich ebenfalls eine Verabredung gehabt hatte. Wahrscheinlich nicht, denn nach dem Blitzschlag war meine Beliebtheit schlagartig gesunken. Meine neue Gabe hatte mich völlig außer Gefecht gesetzt. Ich brauchte fast ein Jahr, um mich an das Summen der Toten zu gewöhnen. Und dann musste ich lernen, meine seltsame Gabe zu verbergen. In dieser schlimmen Zeit galt ich zu Recht als reichlich merkwürdig.

Sie hatte sich an jenem Tag wahnsinnig verspätet, was so gar nicht Camerons Art war. Ich weiß noch, wie ich meine Mutter so weit wach bekam, dass sie auf die Mädchen aufpassen konnte, die ich bei der Tagesmutter abgeholt hatte. Obwohl es nicht gerade schlau war, meine Mom mit ihnen allein zu lassen, konnte ich sie nicht mitnehmen. Ich lief die Straße hinunter, vorbei an den anderen Wohnwagen, und nahm den Weg, den wir immer von der Schule nach Hause gingen.

Tolliver und Mark arbeiteten, und Matthew hatte bei einem seiner reizenden Freunde Billard gespielt, wie sich später herausstellte. Bei einem Junkie namens Renaldo Simpkins. Die Polizei hätte Renaldo nie geglaubt, aber seine Freundin Tammy war ebenfalls dabei gewesen. Sie sagte aus, dass sie während der Billardpartie mindestens fünf Mal ins Zimmer gekommen wäre. Sie war sich ganz sicher, dass Matthew das Haus zwischen vier und halb sieben nicht verlassen hatte. (Halb sieben deshalb, weil da eine Nachbarin angerufen und gesagt hatte, dass der Wohnwagen der Langs von Streifenwagen umstellt sei. Matthew solle seinen Arsch schleunigst nach Hause bewegen.)

Gegen halb sechs hatte ich den Rucksack meiner Schwester gefunden – der, der jetzt vor mir auf dem Couchtisch stand. Und zwar am Straßenrand. Die Straße führte durch ein Wohngebiet mit einfachen Häuschen. Die Hälfte davon stand leer. Aber gegenüber der Stelle, wo ich Camerons Rucksack gefunden hatte, wohnte eine Frau. Sie hieß Ida Beaumont.

Ich hatte mich vorher noch nie mit Ida Beaumont unterhalten, und obwohl ich oft an ihrem Haus vorbeigekommen war, hatte ich sie so gut wie nie im Garten gesehen. Sie hatte Angst vor den vielen Teenagern in ihrer Nachbarschaft – vielleicht sogar aus gutem Grund. Das war ein Viertel, in dem sogar die Polizei auf der Hut war. Aber an jenem Tag lernte ich Ida Beaumont kennen. Ich überquerte die Straße und klopfte an ihre Tür.

»Guten Tag, entschuldigen Sie bitte die Störung. Aber meine Schwester ist heute nicht von der Schule nach Hause gekommen, und ihr Rucksack liegt da unter diesem Baum.« Ich zeigte zu dem bunten Farbfleck hinüber. Ida Beaumont starrte darauf, ihr Blick folgte meinem Finger.

»Ja«, sagte sie vorsichtig. Sie war Anfang sechzig, und aus der Zeitung erfuhr ich später, dass sie von einer Art Behindertenrente lebte sowie von dem, was ihr noch von der Rente ihres Mannes übrig geblieben war. Ich konnte hören, dass ihr Fernseher lief. Sie sah sich eine Talkshow an. »Wer ist Ihre Schwester?«, fragte sie. »Ist sie das hübsche blonde Mädchen? Ich sehe euch immer zusammen von der Schule kommen.«

»Ja, Ma’am. Das ist sie. Ich suche sie. Haben Sie dort drüben heute Nachmittag irgendetwas beobachtet? Sie hätte eigentlich im Lauf der letzten Stunde nach Hause kommen müssen.«

»Normalerweise halte ich mich im hinteren Teil des Hauses auf.« Ida schien das bewusst zu betonen, wahrscheinlich, damit ich sie nicht als Wichtigtuerin abtat. »Aber ich habe etwa vor einer halben Stunde einen blauen Pick-up gesehen, einen alten Dodge. Der Mann darin sprach mit dem Mädchen. Ich konnte sie nicht richtig erkennen, weil sie auf der anderen Seite des Pick-ups stand. Aber sie stieg ein, und dann sind sie losgefahren.«

»Oh.« Ich versuchte, mir einen Reim darauf zu machen. Versuchte, mich daran zu erinnern, ob einer unserer Bekannten einen blauen Pick-up hatte. Aber mir fiel keiner ein. »Danke. Und das war ungefähr vor einer halben Stunde?«

»Ja«, sagte sie sehr bestimmt. »Ganz genau.«

»Und sie sah nicht so aus, als … als hätte er sie dazu gezwungen?«

»Dazu kann ich nichts sagen. Sie haben sich unterhalten, sie ist eingestiegen, und dann sind sie davongefahren.«

»Gut. Vielen Dank für Ihre Auskunft.« Dann machte ich kehrt und überquerte erneut die Straße. Ich drehte mich um. Ida Beaumont stand immer noch in ihrer Haustür.

»Haben Sie Telefon?«, fragte ich. Wir lebten in einem Viertel, wo das nicht selbstverständlich war.

»Ja.«

»Würden Sie die Polizei rufen und ihr ausrichten, was ich Ihnen gerade über meine Schwester erzählt habe? Würden Sie sie bitten, herzukommen? Ich stehe da drüben, neben dem Rucksack.«

Ich konnte so etwas wie Widerwillen auf Ida Beaumonts Gesicht erkennen und wusste, dass sich die alte Frau wünschte, nicht an die Tür gegangen zu sein. »Na, gut«, sagte sie schließlich und seufzte laut. »Ich rufe sie an.« Ohne die hölzerne Haustür zu schließen, ging sie zu einem an der Wand montierten Telefon. Ich konnte sehen, wie sie die Nummer der Polizei wählte, und hörte auch, was sie sagte.

Eines muss ich der Polizei lassen: Sie kam sehr schnell. Anfangs zweifelte sie natürlich daran, dass Cameron wirklich vermisst wurde. Teenagermädchen haben of Besseres zu tun, als nach Hause zu gehen, vor allem wenn sie in so einem Viertel wohnen. Aber der zurückgelassene Rucksack sprach eine andere Sprache, nämlich die, dass meine Schwester nicht freiwillig mitgefahren war.

Schließlich war ich weinend zusammengebrochen und hatte ihnen erklärt, dass ich nach Hause müsse. Dass man meine Schwestern meiner Mom nicht anvertrauen könne, was alles nur noch schlimmer gemacht hatte. Ich durfte meine Brüder anrufen, die sofort alles stehen und liegen ließen und nach Hause kamen. Dass weder Mark noch Tolliver an Camerons Entführung zweifelten, überzeugte die Polizei zusätzlich, dass meine Schwester nicht freiwillig mitgegangen oder absichtlich weggelaufen war.

Die Polizei zum Wohnwagen zu bringen, wäre auch unter normalen Umständen eine erniedrigende Erfahrung gewesen. Aber inzwischen hatte ich solche Angst, dass ich froh war über ihre Anwesenheit. Die Polizisten sahen, dass meine Mutter wieder bewusstlos auf dem Sofa lag, und die Mädchen weinten. Sie hatte angefangen, Gracie eine Windel anzulegen, sie aber nicht mehr zugemacht. Mariella versuchte, ein Stückchen Banane für Gracie zu zerdrücken, die erst seit Kurzem feste Nahrung zu sich nahm. Sie stand auf einem Stuhl, um die Arbeitsfläche zu erreichen. Die Küche war sauber, soweit sie das in einem alten, maroden Wohnwagen überhaupt sein konnte. Aber natürlich war es dort sehr beengt, und unsere vielen Sachen riefen den Eindruck einer totalen Unordnung hervor.