»Sieht es hier immer so aus?«, fragte der jüngere Polizist, während er sich umsah.
»Sei ruhig, Ken!«, sagte sein Partner.
»Cameron und ich tun, was wir können«, erwiderte ich und fing erneut an, zu weinen. Meine Verbitterung machte sich in einem erklärenden Wortschwall Luft. Ein Teil von mir hatte längst begriffen, dass unser bisheriges Leben vorbei war, also brauchte ich auch niemandem mehr etwas vorzumachen.
Während ich weinte und redete, wickelte ich Gracie und machte Mariella ein Sandwich mit Erdnussbutter. Ich zerdrückte die Banane für Gracie, vermischte sie mit etwas Babynahrung und gab alles in eine Schale. Ich holte ihr einen kleinen Löffel aus dem Abtropfgestell. Meine Mutter rührte sich nicht. Nur einmal tastete ihre Hand nach der Stelle, an der Gracie gelegen hatte, und fuchtelte suchend herum. Ich setzte Gracie in ihren Kinderstuhl und fing an, sie zu füttern, wobei ich Pausen machte, um mir die Tränen abzuwischen.
»Sie kümmern sich um Ihre Schwestern«, sagte der ältere Polizist freundlich.
»Meine Brüder verdienen genug, dass wir sie zu einer Tagesmutter bringen können, während wir in der Schule sind«, sagte ich. »Wir haben uns wirklich bemüht.«
»Das sehe ich«, sagte er. Der jüngere Polizist wandte sein Gesicht ab. Seine Lippen waren nur noch ein schmaler Strich, und seine Augen funkelten wütend. »Wo ist dein Daddy?«, fragte er nach einer Minute.
»Mein Stiefvater«, verbesserte ich ihn automatisch. »Ich habe keine Ahnung.«
Als Matthew nach Hause kam, gab er sich erstaunt, dass die Polizei da war. Entsetzt, dass Cameron verschwunden war. Und bestürzt, dass seine Frau trotz des Tumults nichts davon mitbekommen hatte.
So etwas wäre noch nie passiert, behauptete er vor den Cops. Inzwischen war Verstärkung eingetroffen. Ein Cop, der Matthew schon einmal verhaftet hatte, schnaubte verächtlich, nachdem dieser seine Vorstellung beendet hatte.
»Klar, Kumpel«, sagte der Officer. »Und wo warst du heute Nachmittag?«
Nachdem meine Mutter ins Krankenhaus gebracht worden war, saßen Tolliver und ich auf dem Sofa. Mark lief nervös auf und ab, soweit das in einem Wohnwagen überhaupt möglich ist. Eine Sozialarbeiterin war gekommen, um unsere Schwestern mitzunehmen. Matthew war festgenommen worden, weil er ein paar Joints in seinem Auto liegen hatte. Aber die Drogen waren nur ein Vorwand: Nachdem sie den Wohnwagen gesehen und mit mir geredet hatten, wollten sie ihn bloß noch verhaften. Mark und Tolliver hatten alles bestätigt: Mark sehr widerwillig, Tolliver ganz sachlich, was viel über unser Leben aussagte. Aber als die Polizei weg war, traf ich Mark weinend vor dem Wohnwagen an. Er saß im Gartenstuhl vor den Stufen zum Wohnwagen und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen.
»Wir haben uns so bemüht, zusammenzubleiben«, sagte er, als müsste er seine Verfassung erklären.
»Damit ist es jetzt ein für allemal vorbei«, sagte ich. »Jetzt, wo Cameron entführt wurde. Wir können nichts mehr verheimlichen.«
Im darauffolgenden Monat war Cameron mehrmals in Texarkana, Dallas, Corpus Christi, Houston und Little Rock »gesehen« worden. Man hatte sogar eine junge Stadtstreicherin aus Los Angeles hergeschafft, weil sie aussah wie Cameron. Aber keiner dieser Hinweise hatte irgendetwas ergeben, und ihre Leiche war nie gefunden worden. Drei Jahre nach ihrem Verschwinden war ich ganz aufgeregt, weil ein Jäger eine Mädchenleiche in irgendwelchen Wäldern rund um Lewisville, Arkansas, gefunden hatte. Die Leiche – beziehungsweise das, was noch davon übrig war – war die einer Frau, auch die Größe passte zu Cameron. Aber nach einer genaueren Untersuchung stellte sich heraus, dass das Skelett zu einer deutlich älteren Frau gehörte, und auch die DNA stimmte nicht überein. Die Leiche war nie identifiziert worden, aber nachdem man mich in ihre Nähe gelassen hatte, erfuhr ich, dass sie Selbstmord begangen hatte. Ich erzählte es nicht weiter, weil mir die Polizei ohnehin nicht geglaubt hätte.
Tolliver und ich hatten damals schon mit dem Reisen begonnen und bauten gerade unsere Firma auf. Es hatte lange gedauert, bis sich herumsprach, was ich tat, und das Internet darüber berichtete. Die Cops hielten mich für eine Betrügerin. Die ersten zwei Jahre waren hart. Doch danach kam meine Karriere in Schwung.
Aber ich wollte jetzt nicht über meine Biografie, sondern über die von Cameron nachdenken. Ich strich liebevoll über den Rucksack und nahm alles heraus, was darin war. Ich hatte jeden einzelnen Gegenstand hundertfach untersucht. Wir hatten jedes Buch Seite für Seite durchgeschaut und nach einer Botschaft, nach irgendeinem Hinweis gesucht. Alle Zettel, die Cameron von anderen Schülern bekommen hatte, steckten in einer Tasche. Wir hatten sie wieder und wieder gelesen, um eine Erklärung für das zu finden, was unserer Schwester zugestoßen war.
Tanya hatte Camerons Aufmerksamkeit auf Heathers bescheuertes Outfit lenken wollen. Tanya hatte auch Jerrys Bemerkung über Heather kommentiert, der behauptet hatte, SEX mit Heather gehabt zu haben. Jennifer fand Camerons Bruder SCHARF, hatte er eine Freundin? Und war Mr Arden nicht ein furchtbarer Schwachkopf?
Todd hatte wissen wollen, wann er sie zum Abschlussball abholen solle. Würde sie sich bei Jennifer umziehen so wie beim letzten Mal? (Wenn Cameron es irgendwie einrichten konnte, ließ sie sich woanders abholen. Ich konnte das gut verstehen.)
Es war auch ein Zettel von Mr Arden dabei gewesen: Cameron solle ihren Eltern ausrichten, dass einer von ihnen in die Schule kommen und erklären müsse, dass er über die Anwesenheitspflicht informiert sei. Eine schriftliche Entschuldigung reiche einfach nicht. (Mr Arden hatte der Polizei erzählt, dass Cameron einmal zu oft nicht zum Unterricht erschienen sei. Deshalb hätte er sich Camerons Eltern einmal vorknöpfen wollen, um sicherzustellen, dass Cameron nicht noch öfter die Schule schwänzte und ihren Abschluss gefährdete.)
Sie hatte nicht aus Faulheit geschwänzt. Wenn sie fehlte, dann in der letzten Stunde, denn manchmal mussten wir früher weg und die Mädchen von der Tagesmutter holen, falls Tolliver oder Mark verhindert waren.
Natürlich zeigten sich alle unsere Lehrer entsetzt von unseren Lebensbedingungen, nur nicht Miss Briarly. Miss Briarly hatte gesagt: »Und was hätten wir tun sollen? Die Polizei verständigen, damit die Kinder getrennt werden?«
Genau darauf hatte sich die Presse gestürzt, sodass Miss Briarly vom Rektor verwarnt wurde. Darüber hatte ich mich wahnsinnig aufgeregt. Miss Briarly hatte Camerons Lieblingsfach unterrichtet, Biologie. Ich weiß noch, wie sehr Cameron für ihr Genetikprojekt geschuftet hatte, für das sie die Augenfarbe sämtlicher Nachbarn notiert hatte. Sie hatte eine Eins bekommen, und Miss Briarly hatte mir die Arbeit nach Camerons Verschwinden ausgehändigt.
Ida Beaumont musste ihre Geschichte immer wieder aufs Neue erzählen. Im Zuge dessen wurde sie zur totalen Einsiedlerin und ging nicht einmal mehr an die Tür. Die Einkäufe ließ sie sich von der Kirche bringen.
Meine Mutter und Tollivers Vater waren zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Man legte ihnen alles Mögliche zur Last, angefangen von Kindesvernachlässigung bis hin zu Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz.
Tolliver hatte man erlaubt, zu Mark zu ziehen. Ich war in eine Pflegefamilie gekommen, in der man mich sehr gut behandelte. Ich fand es herrlich, in einem richtigen Haus zu wohnen und mir das Zimmer nur noch mit einem anderen Mädchen teilen zu müssen. In einem Haushalt, in dem alles sauber war, ohne dass ich vorher saubermachen musste, und in dem es feste Hausaufgabenzeiten gab. Ich schreibe den Clevelands immer noch zu Weihnachten. Sie erlaubten, dass mich Tolliver samstags besuchte, wenn er nicht gerade arbeiten musste.