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»Ich habe gestern ein paar Anrufe gemacht«, sagte ich. »Und welche bekommen. Als du geschlafen hast. Ich muss dir davon erzählen.«

Eine Stunde später sagte Tolliver: »Die Frau hat sich geirrt? Wir haben also die ganze Zeit eine falsche Spur verfolgt? Sie hat sich einfach bloß getäuscht

»Sie hat nie behauptet, Cameron erkannt zu haben. Nur, dass da ein Rucksack lag, nachdem sie ein blondes Mädchen in einen blauen Pick-up steigen sah«, sagte ich. »Wir können also wieder ganz von vorne anfangen. Im Grunde …« Ich überlegte kurz. »Im Grunde wirft das den ganzen Zeitplan über den Haufen. Sie sagte, dass Cameron etwa eine halbe Stunde, bevor ich kam, mitgenommen wurde. Und ich habe etwa um Punkt fünf mit meiner Suche nach Cameron begonnen. Aber jetzt müssen wir davon ausgehen, dass Cameron früher entführt wurde.«

»Sie hat die Schule gegen vier Uhr verlassen, stimmt’s?«

»Ja, das stimmt. Das hat ihre Freundin – wie hieß sie noch gleich? – Rebecca erzählt. Aber sie hat auch gesagt, dass sie das so genau nicht beschwören kann. Sie hatten die ganze letzte Schulstunde über die Sporthalle dekoriert und auch nach Unterrichtsschluss noch damit weitergemacht. Ich habe immer angenommen, dass sie noch auf dem Parkplatz geblieben ist und mit Freunden geplaudert hat. Aber jetzt gehe ich davon aus, dass sie direkt danach nach Hause aufbrach. Du hast im Restaurant gearbeitet. Mark fuhr von seinem Job bei Taco Bell zu seinem Job bei Super-Save-a-Lot.«

»Eine siebenminütige Autofahrt«, sagte Tolliver automatisch. Wir hatten so oft darüber gesprochen.

»Dein Dad war etwa von vier bis halb sieben bei Renaldo Simpkin. Meine Mom war bewusstlos wie immer.«

Wir sahen uns an. Nach dem neuen Zeitplan war Matthews Alibi deutlich weniger überzeugend als gedacht.

»Egal, was ich von ihm halte – ich will das einfach nicht glauben«, sagte ich.

»Wir müssen nach Texarkana.«

»Lass uns zuerst im Krankenhaus anrufen und hören, was die Schwester dazu sagt.«

Die Schwester verbot uns die Fahrt und meinte, Tolliver müsse im Hotelzimmer bleiben. Wir könnten so vorsichtig sein, wie wir wollten: Sie verbot es uns. Sie freute sich, dass es ihm schon viel besser ginge, aber er würde im Laufe des Tages immer müder werden.

Natürlich hätten wir uns einfach über ihre Anweisungen hinwegsetzen können, aber das wollte ich nicht. Wahrscheinlich hatte sie recht mit ihrem Verbot. Obwohl ich froh gewesen wäre, wenn Tolliver hätte reisen dürfen, wollte ich es nicht riskieren, im Notfall weit weg von seinem Krankenhaus zu sein. Natürlich gab es auch in Texarkana Ärzte. Es gab dort sogar Krankenhäuser. Aber mein gesunder Menschenverstand sagte mir, dass er in dem Krankenhaus, das ihn ursprünglich behandelt hatte, am besten aufgehoben wäre.

Wir sahen uns an. Wir hatten kaum eine Wahclass="underline" Entweder wir verschoben die Fahrt nach Texarkana, bis es Tolliver besser ging. Oder wir fragten Manfred, ob er mich begleiten könnte. Ansonsten konnten wir noch Mark bitten, sich einen Tag frei zu nehmen und mit mir zu fahren. »Mir ist noch etwas eingefallen: Ich könnte auch allein fahren«, sagte ich. Tolliver schüttelte heftig den Kopf. »Ich weiß, und du würdest das bestimmt auch hinkriegen. Aber wenn es um Cameron geht, sollten wir beide fahren. Wir warten noch bis morgen, maximal bis übermorgen, wenn es sein muss. Aber dann fahren wir.«

Ich war froh, einen Plan zu haben, und ganz besonders froh, dass Tolliver fit genug war, diesen Plan zu schmieden. Iona rief an und lud uns zum Abendessen ein, vorausgesetzt, Tolliver wäre dazu in der Lage. Er nickte, also sagte ich zu. Ich fragte nicht, ob wir etwas mitbringen sollten, denn mir wäre ohnehin nichts eingefallen. Außerdem hatte sie meine Angebote bisher stets abgelehnt, so als wären meine Mitbringsel per se suspekt. Der Tag zog sich hin wie Kaugummi.

Endlich gingen wir zum Wagen, wobei sich Tolliver mit äußerster Vorsicht bewegte. Ich fuhr betont umsichtig zu Iona und Hank und versuchte niemandem reinzufahren, was in Dallas gar nicht so leicht ist. Ich war froh, dass wir in der Stadt bleiben konnten und nicht in den Abendverkehr auf der Interstate kamen.

Die Gegend östlich von Dallas ist Peripherie pur. Dort gibt es sämtliche Läden, die man auch in allen anderen Vororten findet: Bed Bath & Beyond, Home Depot, Staples, Old Navy, Wal-Mart … Kaum hat man eine solche Abfolge von Ladenketten hinter sich gelassen, beginnt die nächste. Einerseits bekommt man dort alles, was man will, vorausgesetzt man hat nicht allzu exotische Bedürfnisse. Andererseits … sieht man überall in Amerika dieselben Läden. Wir sind viel unterwegs, aber wenn es keine größeren Klimaunterschiede gibt, lassen sich die jeweiligen Gegenden kaum auseinanderhalten, obwohl Tausende von Kilometern dazwischen liegen.

Und was für die Ladenketten gilt, gilt auch für die Architektur: Wir haben Ionas und Hanks Haus schon überall gesehen – von Memphis bis Tallahassee, von St. Louis bis Seattle.

Tolliver erwähnte das gerade wieder, während ich mich auf den Verkehr konzentrierte. Ich war erleichtert über seine vertrauten Beschwerden, weil ich dann nur in regelmäßigen Abständen ein »Stimmt« oder »Genau« einwerfen musste.

Die Mädchen waren völlig aus dem Häuschen wegen Tollivers Verband. Sie bestürmten ihn mit Fragen und wollten ganz genau wissen, was ihm zugestoßen war. Iona hatte ihnen erzählt, dass jemand unvorsichtig gewesen war und aus Versehen auf ihn geschossen hätte. Auf diese Weise konnten sie und Hank ihnen noch einmal unter die Nase reiben, wie wichtig es war, sich an die Regeln zu halten. Hank besaß ebenfalls eine Waffe, wie er uns erzählte, hielt sie aber sicher unter Verschluss. Da sie versuchten, perfekte Eltern zu sein, hatten er und Iona den Mädchen von klein auf die Sicherheitsregeln im Umgang mit Waffen erklärt. Ich wusste das sehr zu schätzen, hätte es aber noch besser gefunden, den Waffenbesitz generell infrage zu stellen. Aber das passte nicht zu Hanks Vorstellungen von einem echten Amerikaner, sodass ein solcher Vorschlag bei meiner Tante und bei meinem Onkel nur auf wenig Gegenliebe gestoßen wäre.

Nachdem ihre Neugierde gestillt war, verschwanden Mariella und Gracie und beschäftigten sich selbst. Mariella machte Hausaufgaben, und Gracie übte ein Lied für den Chor ein. Iona dagegen kümmerte sich noch um das Essen. Tolliver und Hank gingen ins Wohnzimmer, um die Nachrichten zu sehen, und ich bot Iona an, das Geschirr zu spülen, das während des Kochens schmutzig geworden war. Sie nickte lächelnd, und ich krempelte die Ärmel hoch und machte mich an die Arbeit. Ich spüle gern. Dabei kann ich nachdenken, mich mit einem Leidensgenossen unterhalten oder mich anschließend einfach nur am sauberen Geschirr erfreuen.

»Matthew war heute da.« Iona rührte in einem Topf auf dem Herd. Sie machte Chili. »Er hat vor ein paar Tagen angerufen und gefragt, ob er herkommen könnte. Wir haben darüber nachgedacht. Er hat den Mädels neulich auf der Eisbahn einen gehörigen Schrecken eingejagt. Wir glaubten, dass sie sich weniger Sorgen machen, wenn sie ihm in unserem Beisein begegnen. Vielleicht lauert er ihnen dann auch nicht mehr auf, wenn er merkt, dass er mit uns reden kann.«

Das zeugte von gesundem Menschenverstand. Ich ertappte mich dabei, zustimmend zu nicken, obwohl sie sicherlich keinen großen Wert auf meine Meinung legte. »Ich wette, er ist nicht bloß gekommen, um die Mädels zu besuchen. Was wollte er?« Matthew war ziemlich beschäftigt. Ich fragte mich, wann er da noch Zeit fand, um zu arbeiten.

»Er wollte ein paar Fotos von den Mädchen machen. Er hatte keine aktuellen. Wir haben ihm ihre Klassenfotos geschickt, aber er meinte, die wären ihm im Gefängnis gestohlen worden. Diese Männer stehlen einfach alles.«

»Matthew ist einer von ihnen.«

Sie musste doch tatsächlich lachen. »Ja, da hast du auch wieder recht. Trotzdem, wenn er sich Fotos von seinen Töchtern wünscht, werde ich sie ihm nicht vorenthalten. Obwohl sie jetzt unsere Töchter sind, und daran haben wir auch keinen Zweifel gelassen.«