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»Du hast dich mehr um Gracie gekümmert als Cameron.«

»Ja, das stimmt. Cameron hatte in dem Jahr viel um die Ohren. Es war ihr Abschlussjahr, und ich war ohnehin meist zu Hause, wegen des Blitzschlags.«

»Du hast damals noch sehr an den Nachwirkungen gelitten, oder?«

»Und ob! Noch monatelang. Bevor ich lernte, damit umzugehen. Ich hatte furchtbare Kopfschmerzen, alle möglichen Schmerzen. Aber für Gracie und Mariella habe ich mein Bestes gegeben«, sagte ich, wie um mich zu verteidigen.

»Natürlich hast du das. Du hast den Laden am Laufen gehalten. Aber was ich sagen will, ist Folgendes: Es gab vielleicht Dinge, die du nicht bemerkt hast. Eben weil du so viele Probleme hattest und abgelenkt warst, weil du Tote spüren konntest.«

Das war wirklich eine schlimme Zeit gewesen. Teenager können nicht damit umgehen, wenn sie anders sind als ihre Altersgenossen. »Und du glaubst, dass mir die Veränderungen an dem Baby deshalb nicht aufgefallen sind? Du glaubst, dass Matthew mit dem einen Baby verschwunden und mit einem anderen zurückgekehrt ist? Du glaubst, dass die echte Gracie tot ist?«

Er nickte. »Es war Chip, der manchmal zum Wohnwagen kam«, sagte er. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass er es war. Drex vielleicht auch, aber Chip mit Sicherheit. Er hat bei meinem Dad Drogen gekauft.«

»Oh mein Gott!«, sagte ich. »Deshalb kamen sie mir irgendwie bekannt vor. Und wenn einer von ihnen Dr. Bowden in jener Nacht zur Ranch gebracht hat und sie das Baby loswerden wollten, ohne es umzubringen …«

»Dann haben sie vielleicht Matthew angerufen, der ein schwer krankes Baby zu Hause hatte, das ohnehin nicht durchkommen würde.«

»Wie konnten sie nur? Wie kamen sie bloß auf die Idee, dass Matthew Babys vertauschen würde? Warum sollten sie überhaupt ein Interesse daran haben?«

»Wenn das Baby von Rich Joyce und Mariah Parish war, ist es buchstäblich Millionen wert.«

Mir verschlug es einen Moment lang die Sprache. »Aber warum haben sie es dann nicht einfach umgebracht, damit die Millionen blieben, wo sie waren? Nämlich bei den drei Joyce-Enkeln?«

»Vielleicht wollten sie kein Kleinkind umbringen.«

»Sie waren auch bereit, Mariah sterben zu lassen, obwohl man sie hätte retten können.«

»Es ist ein Unterschied, ob man jemanden sterben lässt oder jemanden umbringt. Ob es sich um eine ziemlich skrupellose Frau handelt oder um einen Säugling. Außerdem war ihnen vielleicht gar nicht klar, wie schlimm es um Mariah bestellt war.«

Ich schüttelte benommen den Kopf. »Aber wenn das stimmt, was hat Matthew dann mit der echten Gracie, seiner tatsächlichen Tochter getan? Meinst du, er ist an jenem Abend absichtlich mit ihr verschwunden und hat sie ausgesetzt oder so was?«

»Das weiß ich nicht und möchte es auch lieber gar nicht wissen … obwohl wir das herausfinden sollten«, sagte Tolliver, der plötzlich klang wie ein alter Mann. »Ich frage mich, ob er je vorhatte, sie ins Krankenhaus zu bringen.«

»Und die Fotos?«

»Er will Fotos von Gracie. Er hat nur welche von Mariella gemacht, damit man ihm seine Geschichte abnimmt«, sagte Tolliver.

»Wie kommst du darauf?«

»Vielleicht ist er zur Eisbahn gekommen, weil er dachte, dort unbemerkt Fotos von Gracie machen zu können. Aber wir haben ihn vorher entdeckt, und die Mädchen hatten Angst vor ihm. Er hatte schon damit begonnen, Kontakt zu Iona und Hank aufzunehmen, indem er ihnen einen Brief schrieb. Als er nichts von ihnen hörte, wollte er sie wahrscheinlich umgehen. Nachdem das auch nicht funktioniert hatte, versuchte er eine erneute Annäherung, und diesmal klappte es. Iona und Hank wollten ihn entmystifizieren, damit sich die Mädchen nicht mehr so fürchten müssen. Also taten sie so, als wäre sein Besuch völlig normal. Sie haben das Richtige getan, allerdings ohne sein wahres Motiv zu kennen.«

»Und was sollen wir jetzt machen?« Ich hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich kann es einfach nicht fassen. Und was hat Cameron mit alldem zu tun? War es nur ein Zufall, dass sie damals verschwand?«

»Vielleicht bilden wir uns das alles bloß ein«, sagte Tolliver. »Vielleicht sind wir genauso blöd wie die Leute, die glauben, JFK wäre von Marsmenschen erschossen worden.«

»Ich wünschte, es wäre so«, sagte ich. »Ich wünschte es wirklich

»Ob Mark irgendwas weiß?«, überlegte Tolliver laut.

»Wir könnten ihn anrufen.«

»Ja, aber Dad wohnt bei ihm.«

»Vielleicht kann er uns irgendwo treffen.«

»Wir rufen ihn morgen an. Danach fahren wir nach Texarkana.«

»Traust du dir das wirklich zu? Du hast die Antibiotika noch nicht zu Ende genommen.«

»Ich glaube, dafür geht es mir gut genug.«

»Logisch, Dr. Lang.«

»He, es gibt Wichtigeres, worüber wir uns Gedanken machen müssen, als meine Schulter!«

»Mal sehen, was der Arzt morgen sagt«, meinte ich, woraufhin er sich von mir gegängelt fühlte. Ich fand es schön, mich um ihn zu kümmern. So sehr mich der Verdacht gegen Tollivers Dad umtrieb, so stolz war ich auch, alles so gut hinbekommen zu haben. Nach weiteren ergebnislosen Gesprächen gingen wir ins Bett, doch in dieser Nacht dürfte keiner von uns beiden besonders gut geschlafen haben. Als Tolliver eindöste, redete er im Schlaf, und das tut er nur, wenn er wirklich erschüttert ist.

»Rette sie!«, sagte er.

19

Anstatt eine Schwester zu fragen, sprach ich am nächsten Morgen direkt mit Dr. Spradling. Zu meiner Überraschung fand auch er, dass es Tolliver gut genug ginge, um einen kurzen Ausflug unternehmen zu können – vorausgesetzt, er musste nichts heben und überanstrengte sich nicht.

Die Aussicht auf den Ausflug veränderte Tolliver vollkommen. Zur Tatenlosigkeit verdammt, hatte er sich vorher wie ein Todkranker gefühlt. Jetzt hielt er sich für einen Gesunden mit vorübergehenden Beschwerden. Ich war entzückt (und erleichtert), dass sein Gesicht und sein Körper erneut Energie und Entschlossenheit ausstrahlten. Aber ich ermahnte mich, nicht zu vergessen, dass ich mich um ihn kümmern musste.

Da wir nicht mehr ans Krankenhaus gefesselt waren, checkten wir aus dem Hotel aus. Wir wussten nicht, was der Tag bringen würde, und auch nicht, ob wir nach Garland zurückkämen, um dort zu übernachten.

Es tat so gut, den Vorstadtsiedlungen zu entrinnen! Wir waren wieder gemeinsam auf der Interstate unterwegs. Für eine Stunde gelang es uns, unsere Probleme zu vergessen. Aber je näher Texarkana kam, desto mehr verstörende Fragen quälten uns.

Wir fuhren an der Ausfahrt Clear Creek vorbei, und ich sagte: »Vielleicht müssen wir nachher hier anhalten.«

Tolliver nickte. Wir waren inzwischen kurz vor Texarkana und nicht sehr gesprächig.

Texarkana liegt bekanntlich an der Staatsgrenze zu Arkansas und hat etwa fünfzigtausend Einwohner. Entlang der Interstate, die eine Schneise durch den Norden der Stadt schlägt, sind Gewerbegebiete entstanden. Gewerbegebiete mit den üblichen Verdächtigen. Wir hatten nicht dort gewohnt, sondern in einem heruntergekommeneren Teil. Dabei ist Texarkana auch nicht besser oder schlechter als jede andere Südstaatenstadt. Die meisten unserer Mitschüler stammten aus normalen Familien und hatten normale Eltern. Wir hatten einfach Pech gehabt.

Die Straße, in der wir gelebt hatten, war von Wohnwagen gesäumt. Das hatte den Vorteil, dass sie sich nicht zu kleinen Parks zusammendrängten, zumindest nicht dort, wo unserer gestanden hatte. Jeder hatte sein eigenes Grundstück. Unser Wohnwagen stand so auf dem Grundstück, dass sein Heck zur Straße zeigte. Man bog also in eine zerfurchte Auffahrt ein und wendete, um im Vorgarten zu parken. Ein Vorgarten insofern, als es eine freie Fläche vor dem Wohnwagen gab, allerdings ohne Rasen. Und die Azaleen, die einmal beidseitig der Betonstufen zum Wohnwagen gestanden hatten, waren zu mickrigen Büschen verkümmert, die keine Pflege mehr lohnten.