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»Mariella entwickelt sich recht ordentlich. Sie ist eine durchschnittliche Schülerin«, sagte Iona. »Und Gracie, heißt es, hinkt den anderen immer ein klein wenig hinterher. Möchtet ihr Kaffee? Ich habe gerade Wasser aufgesetzt.«

»Das wäre toll«, sagte ich. »Ich trinke ihn schwarz.«

»Ich weiß«, sagte sie mit einer gewissen Schärfe, als unterstellte ich ihr, eine schlechte Gastgeberin zu sein. Das klang schon eher nach der Iona, die ich kannte, und ich begann, mich wohler zu fühlen.

»Und ich trinke meinen mit etwas Zucker«, sagte Tolliver. Während sie uns den Rücken zukehrte, sah er mich an und zog die Brauen hoch. Iona führte irgendetwas im Schilde.

Kurz nacheinander stellte sie Tolliver einen Becher und eine Zuckerdose hin und legte einen Löffel und eine Serviette dazu. Ich wurde als Zweite bedient und bekam einfach nur den Becher. Iona schenkte sich ebenfalls Kaffee ein und ließ sich auf den Stuhl sinken, der der Kaffeemaschine am nächsten war. Dabei sah man, dass sie wirklich sehr erschöpft war. Eine Weile sagte sie nichts. Sie schien über etwas nachzudenken. Der Tisch war rund, und in der Mitte lag ein Stapel Briefe. Ich überflog ihn unwillkürlich: die Telefonrechnung, die Rechnung für das Kabelfernsehen und ein handgeschriebener Brief, der aus seinem Umschlag hervorsah. Die Schrift kam mir unangenehm bekannt vor.

»Ich bin erledigt«, sagte Iona. »Ich habe sechs Stunden am Stück im Laden gestanden.« Sie trug ein T-Shirt, eine Baumwollhose und Turnschuhe. Sie hatte sich nie so viel aus Mode gemacht wie meine Mutter, bis die sich für gar nichts mehr interessierte außer für Drogen beziehungsweise dafür, wo sie sie als Nächstes herbekam. Eine unerwartete Sympathie für Iona wallte in mir auf.

»Das ist wirklich anstrengend«, sagte ich, aber sie hörte mir gar nicht zu.

»Da kommen die Mädchen«, sagte sie, und meine Ohren registrierten, was ihre längst gehört hatten: den Klang von Schritten vor der Garagentür.

Kurz darauf stürmten unsere Schwestern herein und ließen ihre Schulranzen an der Garderobe fallen. Sie hängten ihre Jacken an den Haken, zogen ihre Schuhe aus und stellten sie neben ihre Ranzen. Ich überlegte, wie lange Iona wohl gebraucht hatte, um ihnen das beizubringen.

Ich betrachtete meine Schwestern aufmerksam. Bei jedem Besuch hatten sie sich wieder verändert. Ich brauchte dann immer eine Weile, um alles in mich aufzunehmen. Mariella war jetzt zwölf und Gracie drei Jahre jünger.

Die Mädchen waren überrascht, uns zu sehen, aber nicht sehr. Keine Ahnung, ob Iona sie überhaupt vorgewarnt hatte. Mariella und Gracie umarmten uns pflichtbewusst, aber ohne große Begeisterung. Das wunderte mich nicht, wenn man bedenkt, wie sehr sich Iona bemüht hatte, uns in den Augen der Mädchen als nebensächlich erscheinen zu lassen, vielleicht sogar als schlechten Einfluss. Und da sie sich nicht mehr an Cameron erinnerten, waren wohl auch ihre Erinnerungen an den Wohnwagen nur noch schwach bis gar nicht mehr vorhanden.

Ich wünschte es ihnen.

Mariella sah immer mädchenhafter und nicht mehr so schwerfällig aus. Sie hatte braune Haare und braune Augen und war so robust gebaut wie ihr Vater. Gracie war schon immer recht klein für ihr Alter, aber auch launischer gewesen als Mariella. Zum ersten Mal küsste sie mich von sich aus.

Es ist nie einfach, Kontakt zu unseren Schwestern herzustellen. Man muss sich ins Zeug legen, um eine Bindung aufzubauen, die von Anfang an belastet war. Sie saßen mit uns und der Frau, die wie eine Mutter für sie war, am Tisch und beantworteten Fragen. Und sie freuten sich über ihre kleinen Geschenke. Wir kauften immer jeder ein Buch, um sie zum Lesen zu ermutigen – eine Freizeitbeschäftigung, die im Hause Gorham eher selten gepflegt wurde. Aber wir brachten ihnen auch immer etwas anderes mit, irgendeinen Schnickschnack, den man im Haar tragen kann, oder Modeschmuck, nichts Übertriebenes. Es fiel schwer, nicht zu strahlen wie ein Weihnachtsbaum, als Mariella sagte: »Oh, ich habe die anderen beiden Bücher gelesen, die die Frau geschrieben hat! Danke!« Ich verschluckte mein »Gern geschehen« und lächelte stattdessen zufrieden.

Gracie sagte nichts, sondern strahlte uns an. Das sprach Bände, denn sie lächelt nicht oft. Sie sieht Mariella kein bisschen ähnlich, andererseits hatten meine Schwester und ich uns auch nicht ähnlich gesehen. Gracie sieht aus wie eine kleine Elfe: Sie hat eher grüne Augen, langes, dünnes helles Haar, ein kleines Stupsnäschen und herzförmige Lippen.

Vielleicht kann ich einfach nicht sehr gut mit Kindern umgehen. Ich finde Gracie interessanter als Mariella, auch wenn das herzlos klingt. Soweit ich weiß, haben auch echte Mütter heimliche Vorlieben. Ich bin mir sicher, dass ich mir meine nicht anmerken lasse. Ich warte immer darauf, dass Mariella etwas tut, was ich interessant finde, und war entzückt, dass sie sich über das Buch freute. Wenn sich Mariella als Leseratte entpuppte, würde ich einen Weg finden, ihr näherzukommen. Gracie war sehr krank gewesen, zu einem Zeitpunkt, an dem ich ebenfalls krank war. Das lag an der unzureichenden Pflege. Mich hatte der Blitz niedergestreckt, während Gracie an chronischen Brust- und Atemproblemen litt.

»Bist du eine böse Frau, Tante Harper?«, fragte Gracie. Die Frage kam aus heiterem Himmel.

Diese »Tante«-Anrede stammte von Iona. Sie fand, dass wir so viel älter waren als unsere Schwestern, dass sie uns respektvoll anreden sollten. Aber das war nicht der Grund, warum ich so entgeistert war. »Ich bemühe mich, nicht böse zu sein«, sagte ich, um etwas Zeit zu schinden, bis ich den Grund ihrer Frage kannte.

Iona beschäftigte sich mit ihrem Kaffee und hörte nicht auf, mit einem Löffel darin zu rühren. Ich spürte, wie sich meine Mundwinkel senkten, und ich strengte mich an, kein böses Wort zu verlieren. Als klar wurde, dass Iona so tat, als ginge sie das Ganze nichts an, fuhr ich fort: »Ich versuche aufrichtig zu den Menschen zu sein, für die ich arbeite«, sagte ich. »Ich glaube an Gott.« (Aber mit Sicherheit nicht an denselben Gott wie Iona.) »Ich arbeite hart, und ich zahle meine Steuern. Ich bin so gut, wie ich kann.« Und das war die Wahrheit.

»Aber wenn du Geld von Leuten nimmst, ohne dein Versprechen einzulösen, ist das doch böse, oder?«, sagte Gracie.

»Natürlich ist das böse«, schaltete sich Tolliver ein. »So etwas nennt man Betrug, und das würden Harper und ich niemals tun.« Seine dunklen Augen bohrten sich in Iona. Auch Gracie schaute ihre Adoptivmutter an. Bestimmt sahen sie zwei ganz verschiedene Menschen.

Iona wich unseren Blicken nach wie vor aus und rührte immer noch in ihrem verdammten Kaffee.

In diesem Moment kam Hank herein, genau zum richtigen Zeitpunkt. Hank war ein hochgewachsener Mann mit einem breiten Gesicht, dunklem Teint und sich lichtendem blondem Haar. Er hatte einmal sehr gut ausgesehen und war mit vierzig immer noch attraktiv. Seine Taille war seit seiner Hochzeit mit Iona kaum dicker geworden.

»Harper! Tolliver! Wie schön, dass ihr da seid! Wir sehen uns viel zu selten.«

Lügner.

Er küsste Gracie auf den Scheitel und kniff Mariella in die Wange. »Na, ihr beiden?«, sagte er zu den Mädchen. »Wie lief das Diktat heute, Mariella?«

Mariella sagte: »Hallo, Daddy! Ich habe acht von zehn Sätzen richtig geschrieben.«

»Das höre ich gern«, sagte Hank. Er schenkte sich Cola aus einer Zweiliterflasche ein, warf ein paar Eiswürfel ins Glas und holte einen Klappstuhl, der neben dem Kühlschrank stand. »Und, war’s schön im Chor, Gracie?«

»Wir haben gut gesungen«, sagte sie. Sie schien erleichtert zu sein, wieder ein vertrautes Gesprächsthema zu haben.

Falls Hank die angespannte Atmosphäre in der Küche bemerkt hatte, kommentierte er sie nicht.

»Wie geht es euch beiden?«, fragte er mich. »Ein paar interessante Leichen gefunden in letzter Zeit?« Hank pflegte über unsere Arbeit zu sprechen, als wäre sie ein einziger Witz.