»Und was ist dann passiert?«
»Sie hatte nicht vor, schwanger zu werden. Aber als es so weit war, unternahm sie nichts dagegen, bis es zu spät war. Sie trug weite Kleidung, Overalls und solche Sachen, da der alte Mann nicht wissen sollte, dass sie einen Liebhaber hatte. Und sie befürchtete, dass er es mitbekommen würde, wenn sie eine Abtreibung hätte. Sie war taff, aber so taff auch wieder nicht. Chip drehte durch, als er es erfuhr. Doch da war sie bestimmt schon im achten Monat. Er kam zu mir nach Texarkana, um Marihuana zu besorgen. Er wollte sich eine Weile betäuben und nicht mehr daran denken. Als er bei mir war, rief ihn Drex auf dem Handy an und sagte, er sei mit Mariah allein zu Hause und irgendwas wäre schiefgegangen. Mariah hat das Baby ganz allein bekommen, aber sie hörte einfach nicht auf zu bluten. Als er die Nabelschnur durchschnitt und das Baby versorgte – er hatte schon bei der Geburt von Kälbern und Fohlen geholfen –, war sie so gut wie tot. Chip stürmte davon, und als er mich das nächste Mal anrief, wollte er, dass ich ihm das Kind abnehme.«
»Chip wollte das Baby gar nicht.«
»Nein«, sagte Matthew. »Er wollte es nicht.«
»Und da hast du angeboten, ihm zu helfen, und gehofft, eines Tages Geld von den Joyce-Frauen erpressen zu können, indem du behauptest, das Kind stamme von ihrem Großvater.«
»Ich weiß, dass das ziemlich niederträchtig war«, sagte Matthew. Seine tief liegenden Augen wirkten überschattet. »Das ist mir durchaus klar. Aber ihr wisst ja, wie ich damals war. Ich hielt es für eine gute Gelegenheit, an Geld zu kommen. Ich konnte warten, bis wir es brauchen würden.«
»Und dein eigenes Baby lag im Sterben, nur weil du es nicht zum Arzt gebracht hast!«, sagte ich. »Oder war Gracie schon tot, als Chip anrief?«
»Daher hattest du das andere Baby!«, sagte Mark. Ich hatte ihn noch nie so aufgewühlt gesehen. »Dad, warum hast du mir nie etwas gesagt?«
Jetzt war Matthew an der Reihe, verwirrt zu sein. »Du wusstest, dass sie nicht Gracie ist?«, fragte er seinen Sohn. »Über dich habe ich mir nie Gedanken gemacht! Du warst doch kaum da. Wie hast du das bloß herausgefunden?«
Und plötzlich war mir alles klar.
»Ich weiß, wie!«, sagte ich. »Cameron hat es ihm gesagt. Sie hat es auch nicht gleich gemerkt. Sie brauchte eine Weile, um den Tausch zu erkennen. Aber als sie an ihrem Biologieprojekt arbeitete, schrieb sie über Augenfarben und Gene. Du und Mom, ihr hättet niemals ein grünäugiges Kind bekommen können.«
Mark ließ sich aufs Sofa fallen. Seine Beine gaben einfach unter ihm nach. »Dad, sie wollte die Polizei rufen«, sagte er. »Sie wollte melden, dass du ein Kind entführt hast, um Gracie zu ersetzen, weil Gracie gestorben war.«
»Du warst es, Mark!«, sagte ich und hörte meine Stimme nur noch wie aus weiter Ferne. »Du warst es! Du hast sie auf dem Heimweg von der Schule aufgelesen. Du hast ihr erzählt – was hast du ihr erzählt?«
»Ich habe ihr erzählt, dass du einen Unfall hattest«, sagte er. »Ich war an jenem Tag mit dem Motorrad unterwegs, also bat ich sie, den Rucksack am Straßenrand zurückzulassen. Sie hat mir keinerlei Fragen gestellt. Sie ist aufgestiegen. Ich bin in Richtung Krankenhaus gefahren, hielt aber an einer verlassenen Tankstelle und behauptete, mit meinem Motorrad stimme was nicht. Ich bat sie, um das Gebäude herum zu gehen und nach einer Aufpumpstation zu suchen. Ich bin ihr gefolgt.«
»Wie hast du es gemacht?«, fragte ich ganz leise.
Er sah mich mit einem Gesichtsausdruck an, den ich hoffentlich nie mehr sehen muss. Er war beschämt, entsetzt, aber auch stolz. »Ich habe sie erwürgt«, sagte er. »Ich habe große Hände, und sie war so klein. Es hat nicht lange gedauert. Ich musste sie dort lassen, ich konnte sie schließlich nicht auf dem Motorrad transportieren. Ich bin später mit Dads Truck zurückgekehrt. Ich wollte sie dort lassen, hatte aber Angst, du Freak könntest sie finden.«
In meinem Kopf schwirrte alles durcheinander, und ich musste mich abrupt setzen. Tolliver ohrfeigte Mark so fest er konnte, und Mark fiel zur Seite und blutete aus dem Mund. Matthew rührte sich nicht von der Stelle und starrte ihn nur mit offenem Mund an.
»Ich habe es für dich getan, Dad«, murmelte Mark. Er spuckte Blut und einen Zahn aus. »Dad, ich habe es für dich getan.«
»Und dann wurde ich trotzdem verhaftet«, sagte Matthew, als wäre das das Entscheidende.
»Wo ist sie, Mark?«
»Du und deine Familie!«, fuhr er mich an. »Ihr habt nur Probleme gebracht! Erst das Baby, dann Cameron, die Dad bei der Polizei anzeigen wollte. Und jetzt hast du Tolliver auch noch dazu gebracht, dich zu heiraten.«
»Wo ist meine Schwester, Mark?« Ich wollte sie endlich beerdigen. Ich wollte wissen, wo ihre Gebeine lagen. Ich wollte sie ein letztes Mal spüren. Irgendwo in Texarkana wartete sie auf mich. Ich wollte nur den Ort wissen, damit ich ins Auto steigen und hinfahren konnte. Ich würde Pete Gresham Bescheid geben und ihn bitten, mich dort zu treffen.
»Das werde ich dir wohl kaum verraten«, sagte er. »Du kannst mich nicht verhaften lassen, bevor du sie nicht gefunden hast. Also werde ich es dir nicht verraten. Mein Dad wird kein Sterbenswörtchen verlauten lassen, und mein Bruder auch nicht. Unser Wort steht gegen deines.«
»Wo ist meine Schwester?«
Matthew starrte Mark nach wie vor an, so als sähe er ihn zum ersten Mal.
»Natürlich werde ich die Polizei verständigen«, sagte Tolliver. »Warum auch nicht, Mark?«
»Wir sind eine Familie, Tol. Wenn du ihnen das mit Cameron sagst, müssen wir ihnen auch das mit Gracie erzählen. Und die hat niemanden mehr außer Chip. Iona und Hank müssten sie abgeben. Du kannst dir ja vorstellen, was Chip mit ihr tun wird.«
»Chip ist tot, Mark. Er hat sich gestern umgebracht.«
Mark sah ihn eine Weile verständnislos an. Dann sagte er: »Dann kommt sie eben in eine Pflegefamilie, so wie Harper damals.«
»Du versuchst mich zu erpressen und willst, dass ich über den Tod meiner Schwester schweige, indem du meine andere Schwester bedrohst? Mark, du bist wirklich das Allerletzte!«, sagte ich. »Ich kann es kaum fassen, dass du mit Tolliver verwandt bist.«
»So ist es nun mal«, sagte Mark stur.
Es klopfte an der Tür. So viel zum Thema schlechtes Timing.
Da ich die Einzige zu sein schien, die sich noch rühren konnte, stand ich auf und ging zur Tür. Es tat gut, Mark und Matthew nicht mehr ansehen zu müssen.
Ich war dermaßen betäubt, dass ich mich kein bisschen wunderte, Manfred zu sehen. »Das ist ein extrem ungünstiger Moment«, sagte ich, wartete aber, bis er mir den Grund für seinen Besuch genannt hatte.
»Er hat unter anderem Namen einen Schuppen angemietet«, sagte Manfred. »Er hat ihre Leiche dorthin gebracht. Ich weiß, wo sie ist.«
Wir alle erstarrten. Schließlich sagte ich, »Oh, Gott sei Dank!« Tränen liefen über meine Wangen.
Wir riefen die Polizei. Nach meinem Gefühl dauerte es Stunden, bis sie da war, obwohl nur wenige Minuten vergingen. Es war wirklich kompliziert, zu erklären, was passiert war.
Wir hatten Marks Schlüsselkarte aus seinem Geldbeutel genommen, bevor wir in Manfreds Wagen stiegen. Tolliver saß auf der Rückbank. Er hatte den Streifenbeamten erklärt, dass sein Bruder soeben den Mord an seiner Stiefschwester gestanden habe. Sein Dad wolle jetzt sicher bei seinem Sohn bleiben. Und schon waren wir aus der Tür. Die Schlüsselkarte verschaffte uns Zugang zu dem Gelände mit den Lagerschuppen, und als das Tor aufging, fuhren wir hinein. Ein Streifenwagen war bereits unterwegs, aber wir konnten nicht länger warten.