»Nachdem ich den Rucksack angefasst hatte, wusste ich, dass er es war«, sagte Manfred und versuchte, den Stolz in seiner Stimme zu unterdrücken. »Also bin ich ihm gefolgt.«
»Damit warst du also in den letzten Tagen beschäftigt!«
»Er kam während dieser Zeit zwei Mal hierher«, sagte Manfred.
Ich fand das erstaunlich. Fühlte sich Mark dermaßen schuldig, dass er Camerons Leichnam immer wieder einen Besuch abstatten musste? Oder war er wie ein Eichhörnchen, das Wintervorräte anlegt und ständig nachsehen muss, ob sie noch da sind?
Ich hatte Mark nie richtig gekannt. Und wenn mir das schon so ging – wie musste sich dann erst sein Bruder fühlen? Ich drehte mich zu Tolliver um, doch seine Miene war undurchdringlich.
Manfred hielt vor der garagenartigen Einheit mit der Nummer 26 und benutzte die Schlüsselkarte.
Der Raum war nicht einmal zur Hälfte gefüllt. Es gab dort Dinge, an die ich mich noch vage aus der Zeit im Wohnwagen erinnerte. Ich wunderte mich, warum man so etwas aufbewahrte. Anscheinend war Mark davon ausgegangen, dass Matthew die Sachen eines Tages zurückhaben wollte. Ich warf einen Blick auf das Gerümpel, schloss die Augen und machte mich auf die Suche.
Das Summen kam aus einer großen Wäschetruhe, ganz hinten an der Wand. Darauf standen ein Karton mit Zeitschriften und einige Töpfe und Pfannen. Ich fegte sie hinunter. Ich legte meine Hände auf den Deckel. Ich konnte ihn nicht öffnen. Ich spürte mit meiner mir vom Blitz geschenkten Gabe hinein und ...
... fand meine Schwester.
21
Der Behördenkram um Gracie – um das Mädchen, das ich stets für meine Schwester Gracie gehalten hatte – wird bestimmt noch eine Weile dauern. Jetzt, wo ihre richtigen Eltern tot waren, würde niemand mehr Iona und Hank das Sorgerecht streitig machen. Die beiden hatten die Mädchen schließlich rechtmäßig adoptiert. Für sie spielte es keine Rolle, dass eines davon ein anderes Kind war als gedacht. Nachdem sich ihr Schock gelegt hatte, beschlossen Iona und Hank, Gracie trotzdem zu behalten. Als Gott ihr gesagt hätte, sie solle die Erziehung der Mädchen übernehmen, so Iona, hätte er ihr schließlich nichts über deren Eltern erzählt. Wäre Gracie tatsächlich die Tochter von Rich Joyce gewesen, hätte das enorme Komplikationen gegeben. Aber so war es völlig in Ordnung, dass dem nicht so war. Zumindest aus meiner Sicht.
Matthew wanderte wieder ins Gefängnis, allerdings nicht für lange. Er hatte sein eigenes Kind nicht umgebracht, zumindest konnte ihm das niemand nachweisen. Das winzige Skelett der echten Gracie lag nicht mehr dort, wo er es, laut seiner Aussage, vergraben hatte, und zwar in einem öffentlichen Park unweit der Interstate.
Er behauptete, mit Gracie auf dem Weg ins Krankenhaus gewesen zu sein, als sie unterwegs gestorben sei. Er habe sie begraben und uns diese Lügengeschichte mit der Intensivstation aufgetischt, weil er Angst gehabt hätte, dass meine Mutter durchdrehen würde, wenn sie von Gracies Tod erführe. (Da meine Mutter bereits seit Jahren durchgedreht war, nahm ich ihm das nicht ab.) Er blieb ein paar Tage weg, um seine Geschichte von Gracie auf der Intensivstation zu untermauern. Als Chip anrief, war Matthew mehr als erfreut, ein Baby aufzunehmen, dessen zweifelhafte Abstammung ihm eines Tages noch von Nutzen sein konnte. Und wenn er mit einem gesunden Mädchen zurückkam, brauchte er auch nicht länger zu befürchten, wegen Kindesvernachlässigung angeklagt zu werden. Wir rechneten schließlich damit, dass Gracie wieder aus dem Krankenhaus kam. Nur Cameron vermutete, dass Matthew so tief gesunken war, das Kind auszutauschen.
Camerons Hals wies Würgemale auf, es war also noch genug von ihr übrig, um die Todesursache nachzuweisen. Mark gestand, dass sie ihm ihre Vererbungstabelle gezeigt hatte, um ihm zu beweisen, dass meine braunäugige Mutter und ihr braunäugiger Mann keine grünäugige Tochter haben konnten. Cameron hatte nicht gewusst, von wem das Baby »Gracie« war. Aber da sie sicher war, dass das Kind nicht mehr dasselbe war, erklärte ihre Erkenntnis so einiges über Gracies abweichendes Verhalten nach dem Krankenhausaufenthalt. Nachdem Mark Cameron ermordet hatte, hatte er ihre Leiche in die Gefriertruhe des Restaurants gelegt, in dem er arbeitete. Er hatte sie für ein paar Tage in einer Kiste ganz hinten in der Kühlkammer aufbewahrt. Dann hatte er den Schuppen in Dallas angemietet und sie in der Wäschetruhe dorthin gefahren, während sämtliche Medien einen Riesenwirbel um ihr Verschwinden veranstalteten. Dort war sie geblieben. Als er schließlich selbst nach Dallas zog, hatte er noch die Sachen aus dem Wohnwagen dazugestellt. Seitdem wachte er über ihre sterblichen Überreste.
Die arme Cameron! Sie hatte dem Falschen vertraut. Mark war der Älteste, Zuverlässigste. Da war es nur natürlich, dass sie sich an ihn wandte. Sie hatte unterschätzt, wie sehr er seinem Vater ergeben war. Aber sie war klug genug gewesen, all die merkwürdigen Fakten rund um das grünäugige Baby in unserem Wohnwagen richtig zu deuten.
Ich hatte diese merkwürdigen Veränderungen ebenfalls bemerkt. Schließlich hatte ich mich tagtäglich um Gracie gekümmert. Aber es wäre mir wirklich niemals in den Sinn gekommen, dass das Baby, das ich versorgte, nicht mehr meine Schwester war. Ich kann das nur dem Stress und den Folgen des Blitzschlags zuschreiben. Und der Tatsache, dass ich Matthew so etwas Abscheuliches niemals zugetraut hätte. Ich weiß noch, wie ich mich wunderte, dass sich Gracies Gesundheitszustand dermaßen verbessert hatte. Heute kommt es mir auch unglaublich vor, aber damals erklärte ich mir das alles mit der modernen Medizin.
Mark legte ein Geständnis ab – was blieb ihm schließlich auch anderes übrig. Er sitzt jetzt im Gefängnis, was bestimmt nicht angenehm ist. Ich glaube nicht, dass ich seinen Anblick je wieder ertragen kann.
Manfred bekam jede Menge kostenlose Werbung, was ich nach Kräften unterstützte. Er erhielt das Angebot, bei einer dieser Ghosthunter-Sendungen mitzumachen, und ist unheimlich telegen. Er bekommt jede Woche neue Heiratsanträge.
Wir haben nie erfahren, wer die Frau in dem Einkaufszentrum in Texarkana war. Die Stimme auf dem Tonband der Polizei haben wir auch nicht erkannt. Doch von nun an können wir es ignorieren, wenn Cameron mal wieder irgendwo gesehen wird.
Tolliver und ich gingen zurück nach St. Louis, und ich sorgte dafür, dass sich ein dortiger Arzt seine Schulter ansah. Er meinte, dass alles in Ordnung wäre. Wir freuten uns darüber, wieder in unserer Wohnung zu sein und lehnten ein Jobangebot ab, um eine Weile zu Hause bleiben zu können.
Wir haben geheiratet.
Die Mädchen sind bestimmt enttäuscht, weil sie keine schönen Kleider anziehen und auf Fotos posieren konnten, aber wir haben ganz allein vor einem Friedensrichter geheiratet. Ich heiße nach wie vor Harper Connelly, aber Tolliver scheint das nichts auszumachen.
Als Camerons sterbliche Überreste freigegeben wurden, brachte ich sie nach St. Louis, wo meine Schwester bestattet wurde. Wir haben ihr einen schönen Grabstein gekauft. Komischerweise fühlte ich mich danach gar nicht so erleichtert wie erwartet. Eine Zeitlang habe ich sie jeden Tag besucht, bis mir klar wurde, dass sie für immer im Moment ihres Todes gefangen ist. Ich konnte nicht mehr nach vorn schauen, bis ich aufhörte, an ihr Grab zu gehen. Aber jetzt weiß ich wenigstens, was ihr zugestoßen ist.
Bald werden wir wieder unterwegs sein. Wir müssen schließlich Geld verdienen.
Außerdem warten sie auf mich. Denn alles, was sie wollen, ist, gefunden zu werden.