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Ich lächelte schwach. »Ein paar«, sagte ich. Offensichtlich las Hank keine Zeitung und sah auch keine Nachrichten. Im letzten Monat hatte ich dort öfter Erwähnung gefunden, als mir lieb war.

»Wo wart ihr?« Hank schien es auch amüsant zu finden, dass Tolliver und ich wegen unseres merkwürdigen Berufs ständig unterwegs waren. Hank hatte Texas während seiner Armeezeit verlassen, aber das war auch seine einzige Reiseerfahrung.

»Wir waren in den Bergen von North Carolina«, sagte Tolliver und machte eine Pause, um zu hören, ob Iona oder Hank von unserem letzten, berüchtigten Fall wussten.

Nein.

»Dann hatten wir einen anderen Auftrag, auf halber Strecke zwischen Texarkana und hier. In Clear Creek. Und jetzt sind wir in Garland, um euch zu besuchen.«

»Und, gibt’s was Neues im Leichensuchgeschäft?« Wieder dieses provozierende Lächeln.

»Nein, aber es gibt andere Neuigkeiten«, sagte Tolliver irritiert über Hanks Blödeleien. Ich sah zu Tolliver hinüber und merkte, wie konzentriert er Hank fixierte.

Oh je!, dachte ich nur.

»Du hast endlich eine Freundin gefunden und wirst sesshaft!«, witzelte Hank. Tollivers nicht vorhandene Freundin hatte ihm schon viele spöttische Bemerkungen vonseiten Ionas und ihres Mannes eingetragen.

»Ich habe tatsächlich eine«, sagte Tolliver ungerührt, mit einem Strahlen, das mich fast blendete.

»Na, das sind ja wirklich tolle Neuigkeiten, was Mädels? Euer Onkel Tolliver hat eine Freundin. Wer ist es denn, Tol?«

Mein Bruder konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn sein Name abgekürzt wurde.

»Harper«, sagte Tolliver. Er griff über den Tisch und nahm meine Hand. Wir warteten.

»Deine …« Beinahe hätte Iona ›Schwester‹ gesagt, konnte sich aber gerade noch beherrschen. »Aber … ihr beide?« Sie sah von mir zu Tolliver. »Irgendwie gehört sich das nicht«, sagte sie zögernd. »Ihr seid …«

»Nicht miteinander verwandt«, beendete ich ihren Satz und strahlte meine Tante an.

Die Mädchen sahen verwirrt von einem Erwachsenen zum anderen.

»Du bist meine Schwester«, sagte Mariella plötzlich.

»Ja«, sagte ich und lächelte sie an.

»Und Tolliver ist mein Bruder«, stellte sie fest.

»Auch das ist richtig. Aber wir sind keine Blutsverwandten. Das weißt du doch, oder? Ich hatte andere Eltern als Tolliver.«

»Und jetzt?«, fragte Gracie. »Heiratet ihr?« Sie wirkte zufrieden. Verwirrt, aber zufrieden.

Tolliver sah mich über den Tisch hinweg an. Sein Lächeln wurde zärtlicher. »Ich hoffe doch!«, sagte er.

»Wahnsinn! Darf ich dann Brautjungfer sein?«, fragte Mariella. »Meine Freundin Brianna war Brautjungfer auf der Hochzeit ihrer Schwester. Darf ich ein langes Kleid tragen? Und mir die Haare machen lassen? Briannas Mutter hat ihr erlaubt, Lippenstift zu tragen. Darf ich Lippenstift tragen, Mom?«

»Wahrscheinlich wird es gar keine große Hochzeit geben, Mariella«, sagte ich, denn das würde ich ganz bestimmt nicht zulassen. »Wahrscheinlich gehen wir nur zu einem Friedensrichter. Wir werden also nicht kirchlich heiraten, und ich werde kein langes weißes Kleid tragen.«

»Aber ganz unabhängig davon, wie wir heiraten werden: Du darfst dabei sein, und du kannst anziehen, was du willst«, sagte Tolliver.

»Um Himmels willen!«, sagte Iona plötzlich angewidert. »Ihr beide dürft nicht heiraten! Und wenn ihr das tut, obwohl es Gott verboten hat, werden Mariella und Gracie bestimmt nicht dabei sein!«

»Warum nicht?«, fragte Tolliver mit drohendem Unterton. »Sie sind unsere Familie.«

»Das wäre einfach unpassend«, sagte Hank ernst, womit er unsere Beziehung ein für allemal verurteilte. »Ihr beide seid viel zu eng miteinander aufgewachsen.«

»Wir sind nicht blutsverwandt«, sagte ich. »Und wenn wir heiraten wollen, tun wir das auch.« In dem Moment wurde mir bewusst, dass ich mich mehr in eine Diskussion hatte verwickeln lassen, als mir lieb war. Tolliver strahlte mich an. Ich schloss die Augen.

Tolliver hatte doch tatsächlich um meine Hand angehalten, und ich hatte Ja gesagt.

»Nun«, sagte Iona und zog eine für sie typische Schnute. »Auch wir haben Neuigkeiten.«

»Und zwar?« Ich wollte Interesse bekunden. Ich wollte die unangenehme Atmosphäre vertreiben, die meine Schwestern so unglücklich gemacht hatte. Ich zwang mich, meine Tante anzulächeln und so etwas wie freudige Erwartung zu zeigen.

»Hank und ich bekommen ein Baby«, sagte Iona. »Die Mädchen werden einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester bekommen.«

Nachdem ich mich gerade noch beherrschen konnte, nicht mit einem »Was, nach so viel Jahren?!« herauszuplatzen, rang ich mir ein »Oh, das sind ja tolle Neuigkeiten!« ab. »Freut ihr euch schon, Mädels?«

Tollivers Hand fand meine unter dem Tisch und drückte sie.

Wir hatten uns nie Gedanken darüber gemacht, dass Iona und Hank eigene Kinder haben könnten. Und ehrlich gesagt hatte ich auch nie groß über ihre Kinderlosigkeit nachgedacht. Ich hatte sie eigentlich ausschließlich als Störenfriede betrachtet, die uns im Weg standen, wenn wir unsere Schwestern besuchen wollten. Andererseits konnten wir froh sein, dass sie sich Tag für Tag um diese beiden kleinen Mädchen kümmerten, die nicht gerade einfach waren.

In einem Moment seltener Klarheit erkannte ich das und begriff, dass wir uns nicht in Ionas und Hanks Beziehung zu den Mädchen einmischen durften. Ich musterte Mariellas Gesicht und sah ihre Verunsicherung. Weder sie noch Gracie konnten jetzt weitere Probleme gebrauchen. Die Mädchen versuchten, sich auf das Baby zu freuen, waren aber erst einmal erschüttert.

Ich konnte sie gut verstehen.

2

Im Texas Roadhouse hatten wir uns schon für einen Tisch eintragen lassen, als Mark kam. Mark sieht aus wie Tollivers Bruder: Beide haben dieselben Wangenknochen, dasselbe Kinn und dieselben braunen Augen. Aber Mark ist kleiner und dicker und (was ich allerdings nie laut gesagt habe) längst nicht so intelligent wie Tolliver.

Ich habe so viele gute Erinnerungen an Mark, dass ich ihn für immer in mein Herz geschlossen habe. Mark tat, was er konnte, um uns vor unseren Eltern zu beschützen. Nicht, dass unsere Eltern uns bewusst wehtun wollten, aber sie waren nun mal drogensüchtig. Drogensüchtige vergessen, dass sie Eltern sind. Sie vergessen, dass sie verheiratet sind. Sie sind nur noch süchtig.

Mark hatte schwer gelitten, da er sich noch besser als Tolliver an einen normalen Vater erinnern konnte. Mark erinnerte sich, wie er von ihm zum Fischen und Jagen mitgenommen worden war. Dass sein Vater zu Lehrersprechstunden und zu Fußballspielen gegangen war und ihm bei seinen Mathehausaufgaben geholfen hatte. Von Tolliver wusste ich, dass er nur noch vage Erinnerungen an diese Zeit hatte. Aber die letzten Jahre im Wohnwagen hatten diese Erinnerungen immer mehr überschattet, bis der Schmerz auch jene Flamme gelöscht hatte, die sie noch am Leben hielt.

Mark war seit Neuestem Manager bei JCPenney. Er trug eine marineblaue Hose, ein gestreiftes Hemd und ein Namensschild. Als ich sah, wie er das Restaurant betrat, wirkte er erschöpft. Aber seine Miene erhellte sich sofort, als er uns entdeckte. Mark trug sein Haar sehr kurz und hatte seinen Schnurrbart abrasiert. Dieses propere Erscheinungsbild ließ ihn älter, aber auch irgendwie selbstbewusster wirken.

Tolliver und sein Bruder absolvierten das typische Männerbegrüßungsritual, indem sie sich auf den Rücken klopften und mehrmals »Hey, man!« sagten. Ich wurde weniger heftig umarmt. Genau im richtigen Moment erfuhren wir, dass wir jetzt Platz nehmen konnten. Als wir in unserer Nische saßen und mit Speisekarten versorgt waren, fragte ich Mark nach seinem Job.

»Unser Weihnachtsgeschäft war weniger gut als erhofft«, sagte er ernst. Mir fiel auf, wie weiß und ebenmäßig seine Zähne waren, und ich spürte einen eifersüchtigen Stich anstelle seines Bruders. Im Gegensatz zu Tolliver war Mark damals alt genug gewesen, um seine Zähne korrigiert zu bekommen. Als dann Tolliver mit der typisch amerikanischen Mittelstands-Zahnspange und Aknebehandlung an der Reihe gewesen wäre, hatte die Abwärtsspirale für unsere Eltern bereits begonnen. Ich schüttelte die unangemessene Eifersucht ab. Mark hatte in dieser Hinsicht einfach Glück gehabt. »Die Verkaufszahlen sind hinter unseren Erwartungen zurückgeblieben, und wir werden uns in diesem Frühling ganz schön anstrengen müssen«, sagte er.