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Aber dieses Lächeln sollte mir bald vergehen. Ich wagte es nicht, Tolliver einen Seitenblick zuzuwerfen.

Als die Kellnerin verschwunden war, zeigte ich auf Mark, zum Zeichen, dass er mit der Sprache herausrücken sollte.

»Na ja, das wollte ich euch noch erzählen«, sagte er und starrte auf sein Besteck.

»Was wolltest du uns noch erzählen, Bruderherz?«, fragte Tolliver angestrengt höflich.

»Dad hat mir vor ein paar Wochen geschrieben«, sagte Mark. Oder beichtete es vielmehr. Dann wartete er, dass Tolliver ihm die Absolution erteilte, was dieser jedoch nicht vorhatte. Wir beide wussten, dass Mark den Brief beantwortet hatte, sonst würde er jetzt nicht so herumdrucksen.

»Dad lebt also«, sagte Tolliver, und jeder andere hätte seine Stimme für neutral gehalten.

»Ja, er hat einen Job. Er ist wieder clean, Tol.«

Mark hatte schon immer eine Schwäche für seinen Vater gehabt. Und er war stets unglaublich naiv, wenn es um seinen Vater ging.

»Seit wann ist Matthew eigentlich wieder aus dem Gefängnis?«, fragte ich, da Tolliver nicht auf Marks Bemerkung reagierte. Ich hatte es nie geschafft, Matthew Lang ›Vater‹ zu nennen.

»Äh, seit einem Monat«, sagte Mark. Er faltete den kleinen Papierserviettenring, der Besteck und Serviette zusammengehalten hatte. Dann entfaltete er ihn und faltete ihn erneut. Diesmal verkleinerte er ihn zu einem Rechteck. »Er ist wegen guter Führung vorzeitig entlassen worden. Nachdem ich ihm geantwortet habe, hat er mich angerufen und gesagt, dass er wieder Kontakt zu seiner Familie aufnehmen will.«

Ich war mir ziemlich sicher, dass Matthew rein zufälligerweise auch Geld und eine Übernachtungsgelegenheit wollte. Ob Mark seinem Vater tatsächlich glaubte? War er tatsächlich so blauäugig?

Tolliver sagte kein Wort.

»Hat er sich bei deinem Onkel Paul oder bei Tante Miriam gemeldet?«, bemühte ich mich, das Schweigen zu brechen.

Mark zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Mit denen spreche ich nie.«

Auch wenn es nicht wirklich stimmte, dass Tolliver und ich mit Ausnahme von Mark keine weiteren erwachsenen Verwandten mehr hatten, fühlte es sich so an. Matthew Langs Geschwister waren von seinem Verhalten so oft enttäuscht und abgestoßen worden, dass sie jeden Kontakt abgebrochen hatten. Dummerweise galt das auch für seine Kinder. Mark und Tolliver hätten Hilfe gebrauchen können – und das nicht zu knapp –, aber dann hätte man sich mit Matthew auseinandersetzen müssen, der schlichtweg zu schwierig und Angst einflößend für seine Geschwister war. Und so kam es, dass Tolliver Cousins hatte, die er kaum kannte.

Ich wusste nicht genau, was er von Pauls und Miriams Selbstschutzmaßnahmen hielt, aber er hatte in den letzten Jahren keinen Versuch unternommen, sie zu kontaktieren, während Matthew hinter Gittern saß. Ich glaube, das spricht für sich.

»Was macht Dad?«, fragte Tolliver. Seine Stimme war ungewöhnlich ruhig, aber er riss sich zusammen.

»Er arbeitet bei McDonald’s. Am Drive-In-Schalter, glaube ich. Vielleicht auch in der Küche.«

Bestimmt war Matthew Lang nicht der erste Anwalt mit Berufsverbot, der am Drive-In-Schalter von McDonald’s arbeitete. Aber angesichts der Tatsache, dass ich es in der gemeinsamen Zeit im Wohnwagen nicht ein einziges Mal erlebt hatte, dass er etwas kochte oder auch nur einen Teller spülte, war das wirklich eine Ironie des Schicksals. Aber so komisch, dass ich gelacht hätte, war es auch wieder nicht.

»Was ist eigentlich mit deinem Vater passiert, Harper?«, fragte Mark. »Cliff, hieß er nicht so?« Mark fand es wohl an der Zeit, darauf hinzuweisen, dass Matthew nicht der einzige Rabenvater war.

»Als ich das letzte Mal von ihm hörte, war er im Gefängniskrankenhaus«, sagte ich. »Ich glaube, er erkennt niemanden mehr.« Ich zuckte die Achseln.

Mark wirkte schockiert. Er strich geistesabwesend über den Tisch. »Besuchst du ihn nicht?« Er klang erstaunt über meine Herzlosigkeit, was ich wirklich nicht verstehen konnte.

»Wie bitte?«, sagte ich. »Warum sollte ich? Er hat sich nie um mich gekümmert. Da brauche ich mich auch nicht um ihn kümmern.«

»War das nicht anders, bevor er Drogen nahm? Hat er dir da nicht ein schönes Zuhause geboten?«

Ich begriff, dass es gar nicht wirklich um meinen Vater ging, trotzdem reagierte ich gereizt. »Ja«, gab ich zu. »Er und meine Mutter haben uns ein schönes Zuhause geboten. Aber als sie süchtig waren, haben sie kaum noch einen Gedanken an uns verschwendet.« Es gab viele Kinder, denen es schlechter ergangen war und die nicht einmal einen Wohnwagen mit einem Loch im Badezimmerboden besessen hatten. Und keine Geschwister, die auf sie aufpassten. Aber mir hatte es gereicht. Und später waren hässliche Dinge passiert, als meine Mutter und Tollivers Vater ihre gestörten »Freunde« eingeladen hatten. Ich weiß noch, wie wir Kinder eines Nachts unter dem Wohnwagen geschlafen hatten, weil wir uns so sehr vor dem fürchteten, was darin vorging.

Ich schüttelte mich. Bloß kein Mitleid.

»Woher weißt du das überhaupt mit Dad?«, fragte Mark. Er wirkte beleidigt. Mark war schon immer sehr leicht zu durchschauen. Im Moment war ich bei ihm eindeutig nicht sehr wohl gelitten.

»Ich habe einen Brief von ihm auf Ionas Tisch entdeckt. Ich brauchte eine Weile, bis mir einfiel, woher ich die Schrift kannte. Meinst du, er will Iona dazu bringen, dass sie ihm Kontakt zu den Mädchen erlaubt? Aber warum sollte er das wollen?«

»Vielleicht findet er, dass er seine Töchter sehen sollte«, sagte Mark und wurde ganz rot, ein untrügliches Zeichen dafür, dass er wütend war.

Tolliver und ich sahen unseren Bruder nur wortlos an.

»Ist ja gut«, sagte Mark und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. »Er hat es nicht verdient, sie zu sehen. Keine Ahnung, was er von Iona will. Als ich ihn traf, sagte er, dass er Tolliver sehen wolle. Er hat schließlich keine Adresse von ihm, an die er schreiben könnte.«

»Aus gutem Grund«, sagte Tolliver.

»Er ist auf Webseiten gestoßen, die ihre Arbeit verfolgen«, sagte Mark und wies mit dem Kinn auf mich, als säße ich ganz weit weg. »Er meinte, auf eurer Webseite sei eine E-Mail-Adresse angegeben, aber er wolle euch nicht darüber kontaktieren wie ein Fremder.«

Die Kellnerin kam mit unserem Essen, und wir absolvierten das kleine Ritual, Servietten zu verteilen und Salz- und Pfefferstreuer neu anzuordnen.

»Mark«, sagte Tolliver, »fällt dir auch nur ein einziger Grund ein, warum ich mir die Mühe machen sollte, diesen Mann wieder in mein Leben zu lassen? Oder in Harpers?«

»Er ist unser Vater«, sagte Mark hartnäckig. »Er ist alles, was wir noch haben.«

»Nein«, sagte Tolliver. »Harper ist auch noch da.«

»Aber sie gehört nicht zu unserer Familie.« Mark sah mich an, wenn auch diesmal entschuldigend.

»Sie ist meine Familie«, sagte Tolliver.

Mark erstarrte. »Willst du damit sagen, dass ich euch nicht in diesem Wohnwagen hätte zurücklassen dürfen? Dass ich bei euch hätte bleiben müssen? Dass ich euch im Stich gelassen habe?«

»Nein«, sagte Tolliver erstaunt. Wir tauschten einen flüchtigen Blick. »Ich will damit sagen, dass Harper und ich ein Paar sind.«

»Sie ist deine Stiefschwester«, sagte Mark.

»Und meine Freundin«, erwiderte Tolliver, während ich in meinen Salat hineinlächelte. Wie merkwürdig das klang.

Mark starrte uns mit offenem Mund an. »Wie bitte? Seit wann denn das? Ist das legal?«

»Erst seit Kurzem, und ja, es ist legal. Übrigens sind wir sehr glücklich miteinander, danke der Nachfrage.«

»Dann freue ich mich für euch«, sagte Mark. »Schön, dass ihr euch habt.« Doch sehr überzeugt wirkte er nicht. »Ist das nicht trotzdem ein bisschen komisch? Wir sind schließlich zusammen aufgewachsen.«