»Das ist der heilige Judas Thaddäus«, sagte die Frau.
Pendergast drehte den Anhänger um. »Der Schutzheilige der hoffnungslosen Fälle.«
»Diese Halskette hat Elise seit ihrem ersten Studienjahr am College getragen. Sie hat uns allerdings nie den Grund dafür verraten.« Leise sagte Mrs Baxter, wobei ihre Stimme irgendwie merkwürdig klang: »Ich frage mich jeden Tag, warum sie ihrem Leben ein Ende gesetzt hat. Jeden einzelnen Tag. Aber nie bekomme ich eine Antwort.« Ein Schluchzer. »Sie hatte doch noch so viel vor im Leben.«
Pendergast sah sie an. »Ich verstehe Sie, Sie trauern noch«, sagte er ruhig. »Und Sie glauben, dass es Anzeichen oder Hinweise gegeben haben muss, die Sie und Ihr Mann übersehen haben. Aber so schwierig es auch zu begreifen ist, Sie sollten eines wissen: Ein Suizid, der ohne Vorwarnung begangen wird, lässt sich besonders schwer bewältigen – und weil die einzige Stimme, die Ihnen das alles erklären könnte, nicht mehr da ist, ist ein solcher Selbstmord derjenige, der sich besonders stark dem Verstehen entzieht. Was Sie nicht tun dürfen, ist, sich selbst die Schuld daran zu geben.«
Während er das sagte, musterte die Frau ihn. Und dann, als folgte sie einer plötzlichen Regung, trat sie vor und schloss mit beiden Händen seine Finger um das Medaillon.
»Behalten Sie es.«
Pendergast blickte sie fragend an. »Mrs Baxter, ich –«
Mit einer knappen Geste brachte sie ihn zum Schweigen. »Bitte. Ich glaube, Sie sind jemand, der ein wenig weiß über hoffnungslose Fälle.«
Dann wandte sie sich ab und folgte ihrem Ehemann ins Erdgeschoss.
Einen Augenblick lang verharrte Pendergast. Schließlich steckte er das Medaillon in eine seiner Anzugtaschen und zog gleichzeitig ein Paar Latex-Handschuhe hervor. Er legte den Beweismittelbeutel zurück auf den Nachttisch, ging dann eilig durch das Zimmer und sah sich den Nippes, die Toilettenartikel und die Bücher in dem kleinen Bücherregal genauer an. Wie Elises Mutter gesagt hatte, waren die Beamten bereits hier oben im Zimmer gewesen – man sah das Durcheinander ihrer Schuhabdrücke auf dem Fußboden und den aufgewirbelten Staub auf der Kommode. Das war zwar ärgerlich – Pendergast hätte es vorgezogen, wenn das Zimmer, selbst nach all den Jahren, möglichst unberührt gewesen wäre –, aber zu erwarten. Leise drang ihm aus dem Erdgeschoss das Glockengeläut der Türklingel ans Ohr. Schließlich begann er, diverse Schubläden aufzuziehen – die Kommode, der Nachttisch, der Schminktisch –, und durchsuchte rasch ihren Inhalt. Dabei achtete er darauf, nichts durcheinanderzubringen.
Schritte, leiser diesmal, auf der Treppe. Pendergast zog die Handschuhe aus und steckte sie gerade wieder ein, als Agent Coldmoon in dunkelgrauem Anzug im Türrahmen erschien. Er war etwas außer Atem, an seinen Schläfen hatten sich Schweißperlen gebildet. Und mit ihm war ein Geruch ins Zimmer geweht, der Pendergast unbekannt war – er ähnelte versengtem Katzenhaar, vermischt mit Buttersäure.
»Agent Coldmoon«, sagte er und trat vor. »Angekleidet diesmal, wie ich sehe. Wie schön, Sie wiederzusehen.«
»Ebenso«, erwiderte Coldmoon und schüttelte die ihm dargebotene Hand. »Allerdings hatte ich erwartet, Sie früher zu treffen.«
»Sie meinen, im Sechs-Uhr-Flieger von La Guardia. Ja. Na ja, in Anbetracht des Charakters dieses Falls hielt ich es für das Beste, unverzüglich hierher runterzufliegen. Ich bin gestern am späten Nachmittag mit dem Flugzeug aus New York gestartet.« Wieder schnüffelte Pendergast die Luft. »Entschuldigen Sie, aber würden Sie es für unhöflich halten, wenn ich Sie fragte, worum es sich bei diesem ungewöhnlichen Geruch handelt?«
»Was für ein Geruch denn?«
»Keine Ahnung. Der Geruch, der der Kleidung von einem anhaftet, der beispielsweise vor Kurzem einen Rundgang durch eine übel riechende Chemiefabrik gemacht hat.«
Kühl erwiderte Coldmoon: »Ich rieche nichts. Also, könnten Sie mich bitte auf den neuesten Stand bringen?«
»Selbstverständlich. Felice Montera, Alter einundzwanzig, wurde gestern um etwa vier Uhr morgens getötet, offenbar während sie vor Arbeitsbeginn joggte – sie war als Krankenschwester am Mount Sinai Medical Center beschäftigt, ihre Schicht begann um sechs. Ihr Leichnam lag unter einem Gebüsch unweit des Miami Beach Broadwalk und wurde mehrere Stunden nach der Tat von einem Paar in den Flitterwochen gefunden. Am Tatort finden sich wenig verwertbare Beweise. Die örtliche Polizei hat bereits zahlreiche Personen befragt – Hotelmitarbeiter, Leute von den Reinigungstrupps, Anwohner sowie Urlauber –, aber es hat sich noch kein einziger Zeuge gemeldet, und es hat auch niemand etwas gehört, kein Handgemenge, keine Schreie. Ms Montera hatte sich kürzlich von ihrem Freund getrennt, der sich zur Tatzeit aber offenbar nicht in Miami Beach aufhielt.«
»Haben Sie die Leiche gesehen?«
Pendergast nickte. »Heute Morgen in aller Frühe. Auch sie hat kaum Spuren aufgewiesen. Offenbar wurde die Kehle mit einem Messer durchtrennt, anschließend das Brustbein mit einem einzigen Beilschlag gespalten. Es finden sich keinerlei Hinweise auf sexuelle Gewalt oder Misshandlungen – der Mord wurde schnell ausgeführt. Es scheint auch nichts entfernt worden zu sein … außer natürlich das Herz. Über den Brief auf dem Grab von Elise Baxter und die Erwähnung eines Geschenks hinausgehend, scheint es kein Motiv für den Mord an Ms Montera zu geben. Es wurden zwar ein paar blutige Abdrücke von Sandalen gefunden, die vom Tatort fortführen, aber angesichts der Tatsache, dass die meisten Leute hier solche Schuhe tragen, hat die Polizei wenig Hoffnung, konkrete Hinweise zu finden.«
»Wie gut konnte der Täter mit dem Messer beziehungsweise dem Beil umgehen?«
»Der Schlag mit dem Beil zeugt eher von Entschlossenheit als von anatomischen oder chirurgischen Kenntnissen. Er wurde etwas seitlich von der Mitte des Brustbeins angesetzt. Der Schnitt durch die Kehle hingegen wurde entweder sachkundig ausgeführt, oder aber der Täter hatte Glück. Die rechte Halsschlagader wurde so sauber durchtrennt, dass das Opfer rasch verblutet ist.«
Coldmoon nickte langsam. »Irgendwelche Hypothesen?«
»Nein.«
Sie schwiegen. Bis Coldmoon sich wieder in dem ihm eigenen monotonen Tonfall äußerte. »Besteht möglicherweise eine Verbindung zwischen dem Opfer und der Selbstmörderin, auf deren Grab das Herz gefunden wurde?«
»Keine, die ich finden konnte. Keine gemeinsamen Bekannten, Interessen, berufliche oder private Verbindungen. Es ist möglich, dass das Opfer zufällig ausgewählt wurde. Und dann ist da noch diese merkwürdige literarische Anspielung in dem Schreiben.«
Pendergast hielt kurz inne, doch Coldmoon stellte nicht die naheliegende Frage.
Stattdessen sagte er: »In dem Brief stand auch, dass noch weitere Personen ›Geschenke‹ zu erwarten hätten.«
Coldmoons Augen waren nicht braun, sondern eher von einem Goldgrün. Er ließ den Blick durchs Zimmer schweifen wie ein gelangweilter Schuljunge.
»Was nahelegt, dass irgendwo eine Verbindung besteht.« Pendergast hielt inne. »Und bedeutet, dass die Uhr tickt – und eine Menge Arbeit vor uns liegt. Ich schlage daher vor, dass wir separaten Ermittlungsansätzen folgen.«
»Wieso?«
»Sie könnten beispielsweise weiter die näheren Umstände von Monteras Tod untersuchen – es gibt da schließlich noch viele Fragen –, während ich im Baxter-Selbstmord ermittle.«
»Mit anderen Worten: Ich soll mich mit Fragen beschäftigen, die Sie bereits behandelt haben.«
»Keineswegs. Ich habe dem Tatort lediglich einen kurzen Besuch abgestattet. Es gibt immer noch sehr viel über das Leben von Ms Montera herauszufinden, über ihren persönlichen Hintergrund, ihren Bekanntenkreis, es müsste auch ein Gespräch mit ihrem Freund geführt werden. Mit etwas Glück dürfte die Polizei in Miami Beach Ihnen bereits ein paar von den schweren Brocken aus dem Weg geräumt haben. Außerdem würde ich von einer zweiten Meinung profitieren.«