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»Nein.«

»Ah.« Pendergast setzte sich in seinem Sitz zurück.

»Aber wenn ich so eine Versammlung anberaumt hätte«, sagte Coldmoon, »dann aus zwei Gründen. Erstens würde es die Leute verunsichern, weil sie eine Aussage vor Zeugen machen müssen – und das auch noch am Grab ihrer alten Freundin. Das spricht irgendwie auf die abergläubischen Vorstellungen der Leute an – niemand will ja am Grab eines Freundes lügen. Und zweitens: Wenn ich zu dem Schluss gelangt wäre, dass diese Leute wenig zu den Ermittlungen beitragen können, hätte ich mit der Befragung nicht mehr Zeit vergeuden wollen als nötig.«

»Sehr gut«, sagte Pendergast – und schwieg rund anderthalb Kilometer lang, ehe er sich wieder äußerte. »Wie sind Sie eigentlich dahintergekommen, dass der Wachmann seinen Rausch ausgeschlafen hat?«

»Auf die gleiche Weise wie Sie: das Dutzend leerer Bierdosen, die hinter seinem Schuppen lagerten. Nach dem Mord blieb ihm in all seiner Aufregung offenkundig nicht mehr genug Zeit, sie zu beseitigen. Er hat sie dort versteckt und gehofft, dass sie niemandem auffallen. Und dann hat er sich entschlossen, sich irgendetwas Vages auszudenken und es der Polizei aufzutischen. Das bedeutet, dass er wach war.«

Schweigen vom Beifahrersitz.

»Deswegen haben Sie es doch auch gewusst, oder?«, fragte Coldmoon.

»Ah, da wären wir!«, rief Pendergast unvermittelt, als die große, geschwungene Auffahrt des Fontainebleau in Sicht kam. Coldmoon fuhr direkt vor das Eingangsportal, Pendergast stieg aus. »Wollen wir sagen, um fünfzehn Uhr im Poolbereich?«

»Einverstanden.«

Pendergast schloss die Tür, ging um den Wagen zum Fahrerfenster und legte die Ellbogen auf die Unterkante des offenen Fensters. »Wegen dieser leeren Bierdosen«, sagte er und beugte sich ein wenig ins Wageninnere. »Mir scheint, dass Ihre schweifenden Blicke auf eine Aufmerksamkeit für Details hingedeutet haben, nicht auf einen Mangel an Interesse. Wie schön für mich.«

»Was wollen Sie –?«, begann Coldmoon. Doch Pendergast hatte sich bereits umgewandt und drängte sich wortlos zwischen die Leute, die vor dem Hoteleingang herumstanden.

7

Um Viertel vor drei saß Agent Aloysius Pendergast in einer privaten Cabana etwas außerhalb des riesigen, kommaförmigen Schattens des Chateau Tower des Fontainebleau. Die Sichtblenden aus dünnem Segeltuch waren an beiden Seiten heruntergerollt, sodass sein Blick auf die Palmen und die Sonnenanbeter fiel, die auf den Atlantik schauten. Pendergast interessierte sich nicht für die Aussicht; sein gepolsterter Stuhl war zwar zur Sonne ausgerichtet, doch seine Augen waren geschlossen und halb hinter einem Montecristi-Panamahut von außergewöhnlich feiner Webart verborgen.

Außerhalb der Cabana ertönte ein Rascheln, dann erschien ein Kellner und fragte: »Sir?« Gleichzeitig waren im Hintergrund die leisen Gespräche der anderen Gäste zu hören.

Pendergast öffnete die Augen.

»Verzeihen Sie, wenn ich störe. Möchten Sie noch einen Julep?«

»Ja, gern. Richten Sie dem Barkeeper bitte aus, er soll diesmal Woodford Reserve ausprobieren und weniger Zucker und mehr Minze hineinmischen.«

»Sir.« Und damit ging der Kellner. Pendergast hob eine Hand, zog die Hutkrempe etwas weiter herunter und lehnte sich gemütlich zurück. Er hatte den üblichen pechschwarzen Anzug gegen einen weißen aus Leinen getauscht, die Beine waren lässig übereinandergeschlagen, die Metallschnallen seiner Mokassins aus Alligatorenleder glänzten golden in der Sonne.

Als der Kellner ihm ein neues Getränk hinstellte und das alte Glas mitnahm, blieb er reglos sitzen. Und er bewegte sich auch nicht, wenn er die Rufe und Schreie hörte, die hin und wieder von den Swimmingpools ringsherum ertönten. Als eine ihm nicht unvertraute Gestalt an der Sichtblende aus Segeltuch der Cabana zog, schlug er jedoch die Augen auf.

»Agent Coldmoon. Wie schön, Sie wiederzusehen.«

Coldmoon erschien im Eingang und nickte.

»Bitte, nehmen Sie Platz. Möchten Sie auch eine von diesen Leckereien?« Mit lässiger Geste zeigte Pendergast auf einen kleinen Teller mit Datteln, die mit Ziegenkäse gestopft und mit krossen Speckstreifen umwickelt waren.

Coldmoon trat ein und setzte sich auf die Kante einer der Liegestühle, die zur Cabana gehörten. »Nein danke.«

Pendergast winkte einem vorbeigehenden Kellner. »Vielleicht etwas zu trinken?«

»Im Moment nicht.« Auch Coldmoon hatte sich umgezogen, er trug jetzt eine ausgeblichene Jeans, abgetragene Lederstiefel in Carreform, einen Ledergürtel mit einer Navajo-Sandguss-Schnalle und ein langärmeliges Arbeitshemd aus Jeansstoff. Er trug einen Stapel Papiere unterm Arm.

»Ah.« Pendergast deutete auf die Unterlagen. »Hausaufgaben.«

Coldmoon schwieg.

Pendergast nahm sich eine der Datteln und steckte sie sich mit einer zierlichen Handbewegung in den Mund. »Ich bin neugierig. Heute Morgen haben Sie mich gefragt, ob ich irgendwelche Theorien hätte – haben Sie denn welche?«

Coldmoon legte die Mappen auf den Liegestuhl. »Die Obduktion hat nichts Neues ergeben. Die Ergebnisse der forensischen Toxikologie kommen erst in ein paar Tagen, aber ich bezweifle, dass die uns in irgendeiner Weise weiterhelfen werden. Die Background-Überprüfungen und Erstbefragungen lassen keine Alarmglocken läuten – bislang keine Person von besonderem polizeilichen Interesse, niemand, der einen besonderen Grund hatte, die junge Frau tot sehen zu wollen.«

Pendergast nickte.

»Und es ist auch so, wie Sie gesagt haben. Oberflächlich betrachtet, weist der Mord an Montera Anzeichen für ein planvolles wie auch ein planloses Vorgehen auf.«

»Seltsam, nicht wahr?«

Coldmoon schürzte die Lippen. »Zum einen scheint es sich um einen Zufallsmord zu handeln, um die impulsive Tat eines Soziopathen. Andererseits ist der Tatort sorgfältig gereinigt worden, und es finden sich dort keinerlei nützliche Indizien außer denjenigen, von denen der Täter wollte, dass wir sie finden.«

In der Nähe ertönte ein Schrei, gefolgt von einem Platscher, dann Gelächter und ein paar kurze Sätze auf Italienisch. Coldmoon war – wie Pendergast mit Interesse zur Kenntnis nahm – von einer ungewöhnlichen Unerforschlichkeit. Er saß ein wenig linkisch auf der Kante des Liegestuhls, als sei er fest entschlossen, der verheißenen Bequemlichkeit zu widerstehen. Wie immer wirkte der Blick aus den grünen Augen des Mannes ruhelos.

»Warum ›oberflächlich betrachtet‹?«, fragte Pendergast.

»Weil Soziopathen keine Reue empfinden. Ihre prägende Eigenschaft ist der Mangel an Einfühlungsvermögen. Es gibt hier einen Widerspruch.«

»Der da wäre?«

»Der Brief auf dem Grab.«

»Acta est fabula, plaudite!«, sagte Pendergast. »Und ebendies beunruhigt mich. Warum sollte ein Soziopath jemanden wahllos ermorden, und zwar mit einem besonderen Ausmaß an Gewalt, und ein ›Geschenk‹ auf einem Grab hinterlassen, dazu ein Schreiben voller Reue und Zerknirschung? Und wie hat er seine Entscheidung getroffen, Agent Coldmoon? Ms Montera dort zu töten, wo er sie getötet hat, bedeutet, dass er ihr Herz zu einem mehr als fast fünfzehn Kilometer entfernten Friedhof schaffen musste, wozu ihm herzlich wenig Zeit blieb. Warum hat er nicht ein Opfer ausgewählt, das sich in größerer Nähe befand?«

»Es könnte sein, dass er mit uns spielt. Der Brief, selbst das Grab, könnte ein Ablenkungsmanöver darstellen.«

»Stimmt. Und genau deswegen müssen wir nach Maine fliegen.«

Coldmoon hob eine Braue. In seinem ausdruckslosen Gesicht fiel die kleine Veränderung der Mimik extrem stark auf.

»Ah ja, habe ich da eben einen Einwand herausgehört?«

Coldmoon hatte seine Erwiderung, als sie dann erfolgte, sorgfältig bedacht. »Im Fall des Selbstmords von Elise Baxter zu ermitteln – ich nehme an, dass dies Ihre Absicht ist –, scheint mir im Moment von eher untergeordneter Bedeutung zu sein.«