Leider konnte ihm niemand Wichtiges mitteilen. Die Familienangehörigen hatten der Polizei Miami zwar schon die gleichen Fragen beantwortet, aber er ging die Fakten trotzdem noch mal mit ihnen durch. Nicolás arbeitete als Mechaniker in einer nahe gelegenen Autowerkstatt, Aracela, die ihre Stelle als Buchhalterin verloren hatte, als eine Bodega im Stadtteil schloss, ergänzte das Familieneinkommen durch Babysitten. Felice, das ehrgeizigste der drei Kinder, hatte eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht und schon zahlreiche der Kurse, die nötig waren, um die staatliche Anerkennung zu erhalten, absolviert. Zwar hatte sie Freunde hier in Miami und auch auf Kuba, doch den Großteil ihrer Zeit nahm entweder ihre Tätigkeit im Krankenhaus oder das Lernen für die Kurse ein. Ihre wenigen freien Stunden verbrachte sie mit der Familie oder – bis sie sich von ihm trennte – mit ihrem Freund Lance.
Als das Thema Lance zur Sprache kam, verdüsterte sich die Atmosphäre am Tisch. Nicolás sagte irgendwas halblaut auf Spanisch.
Obwohl die Familie gegenüber dem Freund eine Animosität hegte, wussten sie wenig über ihn. Anscheinend hatte sich Felice kaum geäußert, was die Einzelheiten der Beziehung betraf, und hatte den Freund auch nur einmal mit nach Hause gebracht. Die Chemie war derart schlecht gewesen, dass sie es kein zweites Mal versucht hatte. Sie hatte Lance vor einem halben Jahr kennengelernt, unweit vom Mount Sinai, in einem Klub, bei dem er als »Tür-Mitarbeiter« angestellt war – mit anderen Worten: als Rausschmeißer. Vor zwei Monaten hatte der Klubbetreiber ihn gefeuert, ein paar Wochen darauf trennte sich Felice von ihm. Auch bezüglich dieser Sache war sie vage geblieben, was Details anging – sie hatte lediglich Geldprobleme erwähnt, aber Nicolás’ Meinung nach war es letztlich Lance’ Jähzorn gewesen, der seine Schwester abgeschreckt hatte.
»Er hat dauernd angerufen«, sagte Nicolás und wusch dabei ab. »Geld – immer ging es um Geld. Mal wollte er sich was leihen, dann wieder was zurückhaben. Selbst nachdem sie sich getrennt hatten, hat dieser comemierda noch angerufen.« Er spuckte ins Spülbecken.
»Wissen Sie, wann sich die beiden zum letzten Mal getroffen haben?«, fragte Coldmoon.
»Sie hat mir davon erzählt, vor drei, vier Wochen vielleicht. Er hatte ihr vor dem Krankenhaus aufgelauert.«
»Warum?«
»Derselbe Grund. Er hat behauptet, dass sie ihm Geld schuldet. Sie haben sich gestritten, und sie hat ihm gedroht, die Bullen zu rufen.« Nicolás schüttelte den Kopf.
»Wie heißt der Freund mit Nachnamen?«
»Corbin.«
»Corvin«, korrigierte ihn seine Schwester.
»Haben Sie irgendeine Idee, was er jetzt macht?«
»Felice sagt, er hat einen Job in einem anderen Klub gekriegt. Edge, glaub ich, heißt der.«
»Wo ist das?«
Nicolás dachte kurz nach. »Cape Coral.«
»Ich nehme an, Sie haben das alles schon der Polizei Miami erzählt.«
Nicolás und Aracela nickten.
Coldmoon stand auf. »Danke, dass Sie das alles noch einmal mit mir durchgegangen sind. Es tut mir außerordentlich leid, dass Sie Ihre Schwester verloren haben, und wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um den Täter seiner gerechten Strafe zuzuführen.«
Mrs Montera, die sich immer noch die Augen trocken tupfte, wollte ein paar Tamales einwickeln, die Coldmoon mitnehmen sollte, aber er lehnte höflich ab. »Encuentre al hombre que hizo esto«, sagte sie und drückte ihm die Hand.
Auf dem Bürgersteig sah Coldmoon auf seinem Handy Edge nach. Er rief dort an und fragte nach Lance Corvin.
»Er hat momentan ziemlich viel zu tun«, schrie eine Stimme zurück über den Lärm der dröhnenden Musik. »Versuchen Sie’s später noch mal.«
»Wann schließen Sie?«
»Um drei.«
Coldmoon sah auf die Uhr und stieg in den Mustang. Kurz nach acht. Lance Corvin als Tatverdächtiger – das war zu schön, um wahr zu sein … Was vermutlich bedeutete, dass er’s tatsächlich war. Bis Cape Coral war es nicht weit. Mit etwas Glück konnte er diesen Corvin vernehmen, eine Aussage bekommen und um neun zurück im Hotel sein.
Erneut verhieß es ein wunderschöner Abend zu werden. Fast wie nebenbei tippte Coldmoon den Namen des Nachtklubs in die Verkehrs-App ein, dann legte er das Handy auf den Beifahrersitz und fuhr vom Bordstein an. Er hatte es Pendergast zwar nicht gesagt, aber dass er bei der Untersuchung des Tatorts des Mordes an Montera nicht dabei gewesen war, wurmte ihn. Allerdings hatte das Gespräch mit der Familie, wenn schon sonst nichts, dabei geholfen, den Menschen hinter dem Opfer zu sehen – etwas, was ihm sehr wichtig war und den Tod der jungen Frau umso tragischer machte.
Geführt von der sanften Stimme aus dem Navi, ließ Coldmoon die verstopften Seitenstraßen von Little Havana hinter sich und bog auf die Hauptverkehrsader, auf der der Verkehr nach ein paar Kilometern glücklicherweise allmählich nachließ. Rückblickend war er zufrieden, dass er eingewilligt hatte, sich die Ermittlungsaufgaben am heutigen Abend mit Pendergast zu teilen. Pendergast war in seiner Suite im Fontainebleau geblieben, er wollte telefonisch alte Bekannte von Elise Baxter aufspüren. Coldmoon wusste, wie so etwas lief. Eine Bekanntschaft führte zur nächsten, dann noch einer. Pendergast würde den halben Abend herumtelefonieren, noch lange nachdem er selber sich schon schlafen gelegt hätte.
Von diesen Gedanken eingelullt, wurde Coldmoon erst bewusst, dass etwas nicht stimmte, als ihn das Navigationssystem zur Abfahrt in Richtung Westen und auf die Interstate 75 dirigierte. Die Fernstraße mit Mittelstreifen erstreckte sich endlos und führte in absolut monotone Dunkelheit, gelegentlich von einem Paar Scheinwerfer durchbrochen.
Rasch fuhr er auf den Standstreifen, konsultierte sein Handy und stieß anschließend mehrere besonders blumige Lakota-Flüche aus. Cape Coral befand sich gar nicht in der Nähe von Coral Gables, auch nicht von Coral Springs, mit dem er es verwechselt hatte – vielmehr lag der Ort ganz weit an der Westküste des Bundesstaates, am Ende einer pfeilgeraden Straße, die unter dem Namen Alligator Alley bekannt war.
Alligator Alley. »Was für ’ne verdammte Scheiße«, sagte Coldmoon halblaut. Zweihundertzwanzig Kilometer. Zweieinhalb Stunden. Für eine Strecke.
Kurz überlegte er, ob er durch eine Lücke im Mittelstreifen des Highways wenden und zum Hotel zurückfahren sollte. Aber ihm war sofort klar, dass das nicht infrage kam. Die Befragung des Ex-Freundes von Montera war zwingend, selbst wenn die Polizei Miami ihn schon verhört hatte. Und er hatte Pendergast versprochen, den Mann zu vernehmen. Ausgeschlossen, dass er einen möglichen Tatverdächtigen laufen ließ – auch wenn sein Gewissen das erlaubte.
Seufzend traf er aufs Gaspedal und fuhr zurück auf den Freeway in Richtung Westen. Binnen Minuten waren sogar die anderen Scheinwerfer verschwunden, und nur die hohen Lichtmasten leisteten ihm Gesellschaft. Links und rechts nichts als totale Finsternis. Coldmoon ließ den Tacho auf 80 Meilen pro Stunde steigen, dann 90, bevor die Nadel über 100 vorrückte. Falls ihn eine Verkehrsstreife stoppte, würde der Kollege ihn hoffentlich laufen lassen. Wenn nicht – na ja. Es versprach ja sowieso diese Art von Nacht zu werden.