»Wo befinden sich die Abschriften der Vernehmungen jetzt?«, fragte Pendergast.
»Das waren nur inoffizielle Befragungen, es gab keinen Grund, irgendjemanden irgendeiner Sache zu verdächtigen. Dort drin befinden sich die Zusammenfassungen.«
Pendergast zog ein Blatt Papier, auf dem zwei Sätze standen, aus dem Ordner. »Solche wie diese?«
»Ja.«
Pendergast ließ das Blatt zurück in den Ordner fallen. »Gibt es irgendwelche Überwachungskameras oder Videoaufnahmen?«
»Wir sind hier in Maine, Agent Pendergast«, sagte Mr Young. Als würde das alles erklären.
»Gab es Berichte, wonach Fremde in der Stadt waren? Irgendetwas, das ungewöhnlich oder fehl am Platz wirkte?«
»Zu der Zeit des Jahres sind immer Fremde – Touristen – hier im Ort«, erwiderte Waintree. »Bis das letzte Blatt vom Baum gefallen ist. Es gab aber keine Klagen, Prügeleien oder Berichte über irgendwelche besonderen Vorfälle in der Woche, in der die Frau sich erhängte.«
»Was ist mit dem Zimmer, in dem sie Selbstmord begangen hat? Gab es Hinweise, dass dort irgendetwas Ungewöhnliches oder Verdächtiges geschehen ist?«
Beide, der Hotelinhaber und der Polizist, schüttelten den Kopf.
»Und auch keinen Abschiedsbrief?«, fragte Coldmoon.
»Nein«, sagte Waintree.
»Wie sieht’s mit dem Gutachten der Rechtsmedizin aus?«
»Ist vorhanden.«
»Sie meinen diese drei Seiten umfassende Fotokopie mit getippten Notizen?«, sagte Coldmoon. »Da sind ja nicht mal Röntgenbilder dabei.«
»Es ist so, wie ich Ihnen gestern am Telefon erklärt habe«, erwiderte der Sergeant.
»Der Akte ist nicht viel zu entnehmen. Sie hätten sie nach Miami schicken und es dadurch viel bequemer haben können«, fügte Coldmoon stoisch hinzu.
Er warf einen Blick auf das kurze rechtsmedizinische Gutachten. »Die üblichen Strangulationsmerkmale, die mit Erhängen einhergehen«, las er laut. »Der Tod trat aufgrund von Ersticken ein.«
»Die Frau hat sich an einer Duschvorhangstange erhängt«, sagte Pendergast. »Meiner Erfahrung nach sind derartige Stangen – vor allem in Hotels – nicht besonders stabil. Oftmals werden sie mit Saugnäpfen angebracht.«
»Nicht in dieser Lodge«, sagte Young. »Bei uns werden die Stangen mit Montagewinkeln fixiert. Drei Schrauben an jedem Ende, mit Dübeln.« Er lächelte stolz.
Pendergast sah sich erneut in der Lobby um. »Nun gut. Vielleicht sollten wir einmal einen Blick in das Zimmer werfen.«
Young nickte. »Da haben Sie Glück. Es ist der einzige Raum, den wir in diesem Winter nicht renovieren.«
Der Ort, an dem Elise Baxter sich das Leben nahm, sah aus wie zahllose andere Hotelzimmer auch, die Coldmoon gesehen hatte. Teppichboden, eisenhart und so gemustert, dass die Flecken nicht auffielen. Zwei schwere Vorhänge, um sicherzustellen, dass die Morgensonne nicht diejenigen Gäste störte, die gern lange schliefen. Eine Überdecke, die vermutlich seit Beginn der vorherigen Saison nicht mehr gewaschen worden war. Coldmoon hatte mal irgendwo gelesen, dass der schmutzigste Gegenstand in einem Hotelzimmer die Fernbedienung des Fernsehers sei, die manchmal voller Kolibakterien oder sogar ansteckenden, multiresistenten Keimen sei. Er blickte sich um. Da war sie, sie lag auf dem Tisch neben einigen Broschüren, die die örtlichen Sehenswürdigkeiten anpriesen. Das Bad war klein, ausgestattet mit einer Keramikbadewanne und gelben Bodenfliesen. Die Vorhangstange – wie Young gesagt hatte, fest mit Montagewinkeln angebracht – hing ein paar Zentimeter unter der Decken-Zierleiste. Coldmoon schätzte die Entfernung vom Fußboden bis zur leicht schimmeligen Decke auf die üblichen zwei Meter vierzig. Mehr als genügend Abstand, um die Sache zu erledigen.
Pendergast drehte sich zu ihm. »Kann ich mal die Fotos sehen?«
Coldmoon klappte wieder die Mappe auf, und gemeinsam sahen sie sich die abgegriffenen Hochglanzfotos an. Wenigstens der Fotograf hatte gründlich gearbeitet, er hatte aus allen richtigen Winkeln Aufnahmen gemacht, außerdem eine vollständige Serie mit Fotos der Leiche geschossen. Elise Baxter hing von der Duschstange, an einem geknoteten Bettlaken. Sie trug einen Frottee-Morgenmantel, der sich oben geöffnet hatte, sodass die eine Brust zu sehen war. Sie sah längst nicht so gut aus wie auf den Fotos im Wohnzimmer der Eltern. Die ausgetrocknete, vorstehende Zunge, die starrenden Augen und die stecknadelgroßen Blutungen aus den Kapillaren, die sich vom Hals her ausgebreitet hatten und aussahen wie überreife Blaubeeren – alles Indizien für einen Tod durch Ersticken –, entsprachen geradezu lehrbuchmäßig einem Selbstmord wie diesem.
Pendergast zeigte auf eine Nahaufnahme der Beine der Toten. Das Blut hatte sich in den unteren Extremitäten gestaut, aber auf den Zehen und an den Fußknöcheln der Toten war eine Art Glanz zu sehen, ebenso auf dem Rand der Badewanne.
»Sie hat sich vermutlich, hm, die Füße eingeseift«, sagte Young.
»Damit sie es sich nicht anders überlegt?«, fragte Coldmoon.
»Das ist nicht ungewöhnlich«, sagte Pendergast.
Young schüttelte den Kopf.
Pendergast blickte sich um. »Mr Young, die Fliesen hier sehen anders aus als die auf den Fotos. Und bei der Duschvorhangstange scheint es sich um ein relativ neues Modell zu handeln.«
»Das stimmt. Ich meine, wir mussten alles renovieren. Und zwar nicht nur das Bad, sondern auch das Bett, die Tapeten, den Teppich – die gesamten neun Quadratmeter.« Er hielt inne. »Die Mitarbeiter hier im Hotel sind noch abergläubischer als die Hotelgäste.«
»Schön«, sagte Pendergast, der allerdings aussah, als fände er das alles gar nicht schön. Er legte die Hochglanzfotos in die braune Mappe zurück. »Wir schauen uns hier mal ein wenig um, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Überhaupt nicht«, erwiderten die Youngs unisono.
»Und, Sergeant Waintree, die anderen Aspekte des Suizids können wir ja auf der Dienststelle besprechen, sobald wir hier fertig sind.«
Die Miene des Polizisten wurde, wenn überhaupt, noch verschlossener. »Tut mir leid, Agent Pendergast, aber das wird nicht möglich sein.«
»Warum nicht?«
»Na ja …« Waintree zögerte kurz. »Chief Pelletier hat mir aufgetragen, ihn bei Ihnen zu entschuldigen. Er hat momentan wahnsinnig viel zu tun.«
»Ach ja?«
»Ja, Sir. Schauen Sie, wir haben hier eine wahre Epidemie von Straftaten im Zusammenhang mit Opioiden und Drogen, die unsere Dienststelle förmlich überschwemmen. Das und der übliche Kram, mit dem wir jetzt immer zu tun haben, wenn der Winter sich hinzieht. Die Fallakten, die Sie bereits haben, enthalten alle sachdienlichen Hinweise, und ich bin der einzige Augenzeuge des Selbstmords, der noch im Dienst ist. Es hat einfach keinen Sinn, auf die Wache zu kommen.«
Bei dieser langatmigen Antwort wurde Pendergasts Miene undurchdringlich. Als Waintree zu Ende gesprochen hatte, ließ Pendergast eine längere Stille entstehen. Gerade als er antworten wollte, sprang Coldmoon – der irgendeiner inneren Warnung folgend handelte, die er selber nicht ganz verstand – mit dem Satz an die Youngs ein: »Apropos, welche Zimmer haben Sie eigentlich für uns reserviert?«
Das Ehepaar tauschte Blicke. »Ach Gott«, sagte Carol Young. »Aber es stehen keine Zimmer zur Verfügung. Wir haben geschlossen.«
»Kein einziges? Ich dachte, die ganze Lodge sei leer.«
»Ja, das stimmt schon«, sagte der Ehemann. »Wie alle Hotels hier in der Gegend. Die Besucherzahlen gehen in den Keller, sobald die Laubgucker weg sind. Das ist die ideale Zeit zum Renovieren.«
»Hatten Sie nicht gesagt, dass dieser Teil des Hotels derzeit nicht renoviert wird?«
»Dieses Zimmer wird aktuell nicht renoviert. Wie ich Ihnen sagte, es ist schon renoviert worden. Alle anderen Zimmer …« Young hob hilflos die Schultern.
Coldmoon ließ die Antwort sacken. »Können Sie uns denn eine Unterkunft in der Stadt empfehlen?«