»Twinkle!«, rief sie in barschem Tonfall. »Komm sofort zurück!«
Der Hund blieb an einem Grabstein in der nächsten Reihe stehen. Irgendetwas dort fand er wahnsinnig interessant. Selbst aus dieser Entfernung war zu erkennen, dass der Grabstein älter als der von Francis war, aber nicht viel. Vor dem Grabstein lagen ein paar frische Blumen und etwas, das ein von Hand geschriebener Brief zu sein schien. Aber nicht das zog Iris’ Aufmerksamkeit auf sich; Blumen und Briefe ebenso wie eine Vielzahl von Grabbeigaben liebender Angehöriger sah man auf der Hälfte der Gräber auf dem Bayside. Nein, auf Twinkle selbst wurde sie aufmerksam. Offenbar hatte er etwas gefunden, das unten am Grabstein lag, und veranstaltete deswegen ein Riesenspektakel. Weil Twinkle den Gegenstand verdeckte, konnte Iris nicht erkennen, um was es sich dabei handelte, jedenfalls hatte er sich darübergebeugt und schnüffelte und leckte daran.
»Twinkle!« Das gehörte sich einfach nicht. Das Letzte, was Iris wollte, war, an diesem Ort der Ruhe eine Szene zu machen. Hatte ihr Hündchen ein altes Hundespielzeug gefunden? Eine Süßigkeit vielleicht, die einem vorbeigehenden Kind aus der Hand gefallen war?
Das Gebet würde warten müssen, bis sie Twinkle wieder an der Leine hatte.
Iris steckte das Taschentuch zurück in die Handtasche und näherte sich Twinkle mit langen Schritten. Doch während sie schimpfend näher kam, packte er den gerade eben gefundenen Schatz und lief davon. Entsetzt und zugleich verlegen sah Francis ihn in einer Gruppe Palmettopalmen aus dem Blickfeld verschwinden.
Verärgert seufzte sie auf. Francis hätte das gar nicht gern gesehen; er hatte stets darauf bestanden, dass Hunde artig und folgsam zu sein hätten. »Dieser dumme kleine Köter«, hätte er gesagt. Na ja, heute Abend würde Twinkle erleben, was Zucht und Ordnung bedeuteten: keinen leckeren Keks im Futter.
Leise vor sich hin murmelnd, folgte Iris der Richtung, in die der Hund gelaufen war. Als sie bei der Gruppe Palmen ankam, blieb sie stehen und blickte sich um. Twinkle war nirgends zu sehen. Sie wollte ihr Hündchen schon rufen, besann sich jedoch eines Besseren – sie befand sich ja schließlich auf einem Friedhof. Einem Hund hinterherzurennen, der sich losgerissen hatte, war schon schlimm genug. Und jetzt erkannte sie auch, woher die Bewegungen, die sie vorhin bemerkt hatte, rührten: von einer aus drei Personen bestehenden Gruppe – zwei Mädchen und ein Mann in mittleren Jahren, die links von ihr in einem Halbkreis um ein Grab standen.
Just in diesem Moment fiel Iris’ Blick auf eine blitzschnelle Bewegung: Twinkle. Er stand etwa sieben Meter vor ihr, dort, wo der Friedhof ans Wasser grenzte, und wühlte wie verrückt in einem Amaryllis-Beet. Die Erde spritzte nur so auf.
Das war ja schrecklich. So schnell sie konnte, eilte Iris los, die Handtasche eng am Körper haltend. Der Hund war so vertieft in sein Gebuddel, dass er sie gar nicht bemerkte, als sie von hinten an ihn herantrat, die Leine ergriff und kurz daran zog. Überrascht schlug Twinkle einen halben Purzelbaum. Aber obwohl er am Kragen weggezerrt wurde, weigerte er sich, seine Beute loszulassen.
»Böser Hund!«, schalt Iris so laut, wie sie sich traute. »Böser, böser Hund!« Sie wollte sich schnappen, was Twinkle da gefunden hatte, in der Absicht, es ihm wegzunehmen, doch er entwischte ihrem Griff. Der Gegenstand hatte die Größe eines Mini-Spielzeugfußballs, war aber derart dick von Schmutz und Hundespeichel überzogen, dass sie nicht erkennen konnte, worum genau es sich handelte.
»Lass das los, hast du verstanden?« Twinkle knurrte, als Iris erneut die Hand danach ausstreckte, aber diesmal gelang es ihr, ein Ende des Gegenstands zu packen. Sie wusste ja, er würde sie nicht beißen – es ging nur darum, dass sie ihm das Ding aus dem Maul zog. Nur war Twinkles Beute ekelerregend schlüpfrig, und er hielt sie hartnäckig fest. Es kam zu einer Art Zweikampf: Iris zog den Hund zu sich heran, Twinkle wehrte sich und grub die Pfoten in den Sand. Ein wenig ängstlich sah Iris nach hinten, aber die Gruppe an der anderen Grabstätte hatte nichts mitbekommen.
Das heftige Tauziehen dauerte fast eine halbe Minute. Am Ende war der Gegenstand schlicht zu groß, als dass Twinkles kleines Maul ihn festhalten konnte, und mit einem entschlossenen Ruck gelang es Iris, ihm ihn zu entreißen. Nachdem sie sich aufgerichtet und überprüft hatte, dass sie Handtasche und Leine fest in Händen hielt, sah sie, dass es sich bei dem Gegenstand um ein Fleischstück handelte. Während des Gerangels war eine klebrige, rötliche Flüssigkeit herausgetropft, auf ihre Hand und Twinkles Schnauze. Gleichzeitig fiel Iris auf, wie ungewöhnlich das Fleischstück war – zäh und ledrig. Ihre erste Regung war, es angewidert loszulassen, aber dann hätte Twinkle doch nur wieder danach geschnappt.
Während der Hund kläffte und sprang und versuchte, seinen Fund wiederzubekommen, griff Iris in die Handtasche, zog das Taschentuch hervor und wischte das Ding ab. Was um alles in der Welt hatte es auf einem Grab zu suchen?
Als sie die eine Seite säuberte, kam plötzlich eine kurze, dicke karmesinrote Röhre – vergleichbar dem Ende eines Kühlerschlauchs – zum Vorschein. Plötzlich verharrte sie, wie starr vor Schreck. Sie war lange genug die Ehefrau eines Fleischers gewesen, um inzwischen genau zu wissen, was da auf ihrer Hand lag. Das hier musste ein Traum sein, ein Albtraum, es konnte unmöglich wirklich sein.
Das Gefühl der Irrealität hielt nur für einen Sekundenbruchteil an. Dann stieß Iris einen Schrei des Abscheus aus und ließ das Ding fallen, als hätte es ihr die Hand verbrannt. Sofort steckte Twinkle es sich ins blutverschmierte Maul und riss sich erneut los, rannte triumphierend davon, die Leine hinter sich herziehend. Doch Iris nahm nichts mehr davon wahr. Sie hatte so ein merkwürdiges Brausen im Ohr, und auf einmal spürte sie, dass ihr ganz heiß wurde. Schwarze Pünktchen tanzten an den Rändern ihres Gesichtsfelds. Das Brausen wurde lauter, dann noch lauter, und das Letzte, was sie sah, bevor sie bewusstlos zu Boden sank, war, dass die Gruppe am anderen Grab auf sie zulief.
2
Lediglich mit einem feuchten, um die Taille geschlungenen Badetuch bekleidet, entspannte sich Assistant Director in Charge Walter Pickett in der mit Zedernholz verkleideten Sauna. Die Sauna war groß, ausgestattet mit zwei Reihen von Bänken und leer bis auf einen anderen Mann – jung und groß gewachsen, mit dem Körperbau eines Schwimmers –, der am anderen Ende nahe der Tür saß. Pickett selbst saß hinter dem Aufgusseimer, der dabei half, die Temperatur und die Luftfeuchtigkeit in dem Raum zu regulieren. Pickett zog es vor, jedwede Lage, in der er sich befand, im Griff zu haben.
Neben ihm auf der Bank lag ein einzelnes Blatt Papier, geschützt von einer Klarsichthülle.
Er sah kurz auf das in die Täfelung eingelassene Thermometer. Zwar war es wegen der Luftfeuchtigkeit ein wenig beschlagen, aber die Temperatur ließ sich trotzdem darauf ablesen: angenehme 75 Grad.
Die Sauna grenzte an den Männerumkleideraum und die Duschen tief in einem Nebengebäude des FBI in der Worth Street. Der Komplex beherbergte nicht nur verschiedene Außenstellen, sondern auch eine Schießanlage und derartige Annehmlichkeiten wie Squashplätze, einen Swimmingpool und natürlich diese Sauna. Zudem lag es nur um die Ecke von seinem Büro im FBI-Hauptgebäude an der Federal Plaza 26. Die Räumlichkeiten dort waren gar nicht zu vergleichen mit seinem spartanischen Büro in Denver, wo er bis vor drei Monaten als Special Agent in Charge tätig gewesen war.
Nachdem Pickett die Academy mit Abschluss verlassen hatte, war er schnell aufgestiegen und hatte sich in den Dezernaten Spionageabwehr und Kriminelle Unternehmungen wie auch in der Abteilung für Interne Ermittlungen (OPR) einen Namen gemacht. Auf seine jetzige Stelle, Einsatzleiter in New York City, hatte er schon lange ein Auge geworfen. Sie stellte einen der echten Top-Posten im Bureau und das natürliche Sprungbrett nach Washington dar. Alles hing nun davon ab, dass er den Laden in den Griff bekam und in aufsehenerregenden Fällen große Siege einfuhr … Und Pickett hegte keinerlei Zweifel daran, dass er zu beidem fähig war.