Plötzlich merkte sie, dass sie unbedingt an die frische Luft musste. Die stickige Dunkelheit, die Nähe der schwitzenden Leiber, das unausweichliche Pulsieren der Laser, die dröhnenden Elektro-Beats und das wilde Geschrei – es war alles zu viel. Inzwischen panisch trotz der großen Menge Alkohol, löste sich Jenny aus dem Getümmel, rannte die Treppe hinunter – sie wäre heruntergefallen, wenn nicht so viele Leute vor ihr hinuntergestiegen wären – und strebte etwas taumelig der doppelflügeligen Tür zu, die auf den Ocean Drive führte.
Beim Anblick der Menschen auf dem Bürgersteig war sie irgendwie erleichtert. Sie ging ein paar Schritte, dann lehnte sie sich gegen die Fassade des Gebäudes und atmete tief ein und aus. Die Panikattacke verging.
Im selben Moment kamen zwei Gestalten auf sie zugelaufen. Jenny blinzelte im hellen Neonlicht und erkannte ihre Freundinnen.
»Ich hab mir schon gedacht, dass du das warst, die da an mir vorbeigerannt ist«, sagte Beth. »Was ist denn los?«
»Nichts«, sagte Jenny. »Sorry. Wollt ihr wieder reingehen?«
»Nö, da drin sind bloß jede Menge Fuckboys. Hey, hört mal zu. Ich hab von einem Klub gehört, der echt geil sein soll. Er liegt nicht weit weg von hier, nur ein, zwei Straßen.«
Jenny schnaufte tief durch. »Wisst ihr was? Geht ihr beide allein. Ich glaub, ich nehm mir ein Uber und fahr zurück ins Apartment.«
Beth war total enttäuscht. »Lass uns jetzt nicht hängen, Jen-Mädel.«
»Wirklich, ich bin echt blau. Macht nur, amüsiert euch. Wir sehen uns später.« Sie griff nach ihrem Mobiltelefon.
Aber Beth war zu schnell. Sie hatte ihr Handy bereits hervorgezogen und rief die Uber-App auf. »Es dauert eine Viertelstunde, vielleicht doppelt so lang, um bei diesem Verkehr herzukommen. Du musst dir diesen anderen Laden wenigstens mal ansehen.« Und ohne eine Antwort abzuwarten, beendete sie die Auftragsvergabe an das Taxi-Unternehmen. Und dann ging sie den Ocean Drive hinauf und steckte das Handy in die Fake Dolce-&-Gabbana-Handtasche zurück.
Wie automatisch ging Jenny hinter ihr her. Aber ebenso schnell, wie die Panik verschwunden war, trat etwas anderes an ihre Stelle: die Übelkeit, die ihr bereits vorhin aufgefallen war. Die jetzt zurückkam, und zwar gewaltig. Verdammt, dachte sie, das ist dieser fünfte Wodka-Cran. War ein Fehler gewesen, den runterzukippen.
Erneut blieb Jenny stehen, schaute sich um und blickte auf die unendlich vielen funkelnden Lichter, die verschwammen, wieder deutlicher zu sehen waren, wieder verschwammen.
»Mädels. Mir geht’s echt nicht gut. Ich glaub, ich muss mich gleich übergeben.«
Aber Beth und Megan gingen weiter, und sie konnten Jenny bei dem Trubel ringsum auch gar nicht hören.
Rasch blickte sich Jenny um. Ringsum neigte sich alles auf eine Übelkeit erregende Weise, und ihr Magen grummelte sekündlich lauter. Unmöglich, dass sie hier vor diesen Menschenmassen ihr Essen wieder von sich gab, aber dieser Speichelfluss, der tief in ihrem Hals entstand – der konnte nur eines bedeuten.
Da: Nur ein Gebäude weiter sah sie eine dieser Service-Gassen, die in Abständen auf den Ocean Drive führten. Während sie in die enge Dunkelheit lief, vorbei an übel riechenden Müllcontainern und Türen, die zu schmuddeligen Küchen führten, nahmen das Licht und der Lärm ab, bis Jenny sogar die eigenen Schritte auf dem Ziegelpflaster hörte. Vor ihr war nichts als Finsternis und – weit weg, so schien es – der Lichtschein des Ocean Court und, noch weiter weg, der Collins Avenue. Erstaunlich, wie schnell sich alles in nur wenigen Sekunden verändern konnte – von überfüllt zu so menschenleer.
Plötzlich ließ Jennys Magen es nicht mehr zu, dass sie auch nur einen Schritt weiterging. Sie lehnte sich an die nächstbeste Mauer, stützte sich mit einer Hand ab und gab die Sui Mai mit Jakobsmuscheln, die kross geröstete Ente und die Dim sum mit schwarzem Reis wieder von sich. Das ging so weiter und weiter, bis sie nichts mehr bei sich hatte, sondern nur noch trocken würgte.
Langsam verging das furchtbare Gefühl der Übelkeit. Jenny war immer noch angeschickert – und hatte jetzt auch noch Seitenstiche –, aber wenigstens fühlte sie sich wieder wie ein Mensch. Sie holte tief und erleichtert Luft; sie fand es behaglich hier im Dunklen, empfand eine seltsame Zuneigung zum vorübergehenden Ungestörtsein, das die Dunkelheit ihr geboten hatte. Aber Beth fahndete bestimmt schon nach ihr. Als sie sich in Richtung Boulevard umdrehte, fuhr hinter ihr ein leichter Windzug raschelnd in die Müllreste. Sie würde das Uber-Taxi absagen und ihren Freundinnen beweisen, dass sie Party machen konnte wie …
Plötzlich wurde das Geraschel lauter – lauter als jeder Windstoß. Eine Hand legte sich fest auf ihren Mund, ein seltsames Gefühl zog schnell über ihre Kehle, und dann füllte sich ihr Hals jäh mit warmem, sprudelndem, erstickendem Blut.
11
Es war fast halb fünf, als Pendergast in die Lobby zurückkehrte. Er sagte nicht genau, was er im Zimmer von Elise Baxter getan hatte, und Coldmoon fragte auch nicht danach. Allerdings fiel ihm auf, dass Pendergast nach wie vor seinen Parka anhatte – und zwar mit hochgezogenem Reißverschluss. Angesichts der Tatsache, dass in dem Hotel eine gewächshausartige Schwüle herrschte, hatte sich Pendergast ja vielleicht einem ganz besonderen Schwitzhüttenritual unterzogen.
Als er hörte, dass jemand in der Lobby war, trottete Young, der Manager, aus dem Backoffice, fragte, ob sie noch etwas benötigten, drückte erneut sein Bedauern darüber aus, dass er sie nicht unterbringen könne, und erklärte ihnen, wie sie nach Millinocket kämen.
Sie traten hinaus in die bittere Kälte und stiegen in den Mietwagen, Coldmoon setzte sich wieder ans Steuer. Sie folgten Youngs Anweisungen und dem Navi und fuhren Richtung Südosten, auf zunehmend einsamen und schlecht geräumten Straßen. Hin und wieder kamen sie an einer Farm oder einem Gewerbebetrieb vorbei, halb begraben unter Schnee. Es dämmerte bereits, aber Coldmoon machte das nichts aus; die Nacht konnte auch nicht düsterer werden als der Tag.
Vor ihm tauchte ein gelb-rotes Schild auf, das über den Bäumen hervorschaute: der SaveMart, den Sergeant Waintree erwähnt hatte.
Der untere Teil des Schildes fehlte, wie weggeblasen durch die Ladung einer Schrotflinte, sodass die Leuchtstoffröhren zu sehen waren.
»Wir sollten anhalten«, sagte Coldmoon.
Pendergast, der die Selbstmordfotos durchgesehen hatte, hob den Kopf. »Wie bitte?«
»Wir sollten uns etwas zu essen besorgen. Waintree hat uns gewarnt, dass zu dieser Zeit des Jahres womöglich kein Restaurant mehr geöffnet hat.«
»Ah, ja. Natürlich.« Pendergast legte die Fotos beiseite und stieg, so wie Coldmoon, aus dem Wagen.
Sie waren die einzigen Kunden in dem schäbigen kleinen Supermarkt, der kurz davor war, zu schließen. Pendergast wirkte merkwürdig verloren in dem Laden. Im winzigen Bereich mit Obst und Gemüse nahm er sich einen Kopf Salat, drehte ihn mal so, dann so, legte ihn zurück. Er schlenderte einen Gang hinauf und einen anderen herunter, schließlich blieb er vor dem Regal mit Kräutertees stehen.
Mit spitzen Fingern griff er nach einer Packung. »Kokosnuss-Kamille-Passionsfrucht?«
»Was kann ich dafür?« Coldmoon entschied sich schnelclass="underline" eine Büchse Sardinen, ein Protein-Riegel, ein Fertiggericht mit Ramen-Nudeln, vier Packungen Twinkies und eine Packung mit dem billigsten gemahlenen Kaffee, den er finden konnte. Damit ging er zur Kasse. Pendergast folgte eine Minute darauf, mit leeren Händen.
Als sie wieder ins Auto stiegen, zog Pendergast wieder die Fotos aus der Polizeiakte. Vor allem bei einer Aufnahme schien er zu verweilen, einer Vollbildansicht der Frau, wie sie an der Vorhangstange hing, die eine Seite des Sprunggelenks auf dem Badewannenrand ruhend, der Kopf schief, zerzauste Haare, denen es nicht ganz gelang, die sich vorwölbenden Augen zu verdecken. »Was ist damit?«, fragte Coldmoon.