»Was machen Sie da?«
Pendergast sah ihn ungläubig an. »Ich hätte gedacht, dass das offensichtlich ist. Ich schaue mir Ihre Pistole an.«
Coldmoon streckte die Hand aus. »Geben Sie sie her. Sofort.«
Einen Augenblick lang fiel Pendergasts Blick auf Coldmoons Hand, dann kehrte er zu seinem Gesicht zurück. Etwas in diesen kalten Katzenaugen löste eine instinktive Furcht in ihm aus.
Momente lang stierten sie einander nur schweigend an. Schließlich schob Pendergast das Magazin in die Kammer zurück. »Agent Coldmoon, wir sitzen hier in dieser abgelegenen, trostlosen Gegend fest und sind gegen unseren Willen gezwungen, uns auf unangenehme Weise nahe zu sein. Unter diesen Umständen ist dieses Bett – mit dem einen Kissen – der einzige Ort in ganz Maine, den ich mein Eigen nennen kann. Sie haben sich mit Ihrem Papierkram auf dem anderen Bett eingerichtet. Also, da Sie Ihre Faustfeuerwaffe ganz bewusst auf mein Bett gelegt haben und da wir als Waffenbesitzer und Enthusiasten wissen, dass es keine größere Übertretung gibt als die Handhabung der Waffe eines anderen ohne dessen Erlaubnis, kann die Tatsache, dass Sie Ihre Waffe dort abgelegt haben, nur eines bedeuten: dass Sie wollten, dass ich sie mir anschaue und wertschätze. Das habe ich getan. Und es ist wirklich eine schöne alte Kurzwaffe.«
Und damit schob er die Browning ins Holster zurück und hielt es Coldmoon wortlos hin.
Coldmoon nahm es an sich und legte es, ebenfalls schweigend, auf den Nachttisch auf der anderen Bettseite. Gleichzeitig ging ihm auf, dass er gerade eben von seinem Seniorpartner ziemlich selbstgerecht abgekanzelt worden war. Und als er aufstand und seinen Kaffeebecher aus dem sprudelnden Wasserkocher nachfüllte, wurde ihm außerdem klar, dass er es verdient hatte. Denn Pendergast hatte es nicht nur mit einem starrköpfigen Chef und einem schwierigen beruflichen Umfeld zu tun, sondern irgendwie liefen die Ermittlungen auch nicht nach Plan. Das Letzte, was er brauchte, war, von seinem Partner nicht respektiert zu werden.
Coldmoon nahm sich eine der Fallakten und setzte sich leise stöhnend zurück auf sein Bett. Wahrscheinlich sollte er dem armen Mann ein bisschen Spielraum lassen.
Plötzlich erwachte Coldmoon aus einem traumlosen Schlaf. Zunächst war er verwirrt. Es war nicht dunkel, sondern hell. Dann blinzelte er – und bemerkte, wo er sich befand: im Zimmer 101 des Lowly Mackerel. Er war eingeschlafen, vollständig angekleidet, als er in der Fallakte der Polizei Katahdin las. Er hielt immer noch eine Seite in der Hand. Er blinzelte noch einmal, und da sah er Pendergast. Den Rücken zu ihm gekehrt, saß er auf dem Rand des anderen Betts. Offenbar grübelte er nach wie vor über die Fotos des Selbstmord-Tatorts nach.
Als es erneut klingelte, wurde Coldmoon bewusst, dass sein Handy ihn geweckt hatte. Er zog es aus der Hosentasche und sah, dass es Viertel nach zwölf war. »Ja?«
Als er die Stimme hörte, war seine Schläfrigkeit wie weggeblasen. »Ja, Sir?«
»Wo sind Sie?«
»In einem Motel außerhalb von Millinocket.«
»Okay.« Picketts barsche Stimme. »Und nun hören Sie mal genau zu. Ich möchte, dass Sie beide Ihre Koffer packen. Außerdem will ich, dass Sie sich in die früheste Maschine nach Miami setzen und zurückkommen. Es ist mir egal, ob Sie mit dem Auto nach Boston fahren müssen, um den Flug zu erreichen – Sie buchen und steigen in den Flieger.«
Pendergast, der immer noch auf dem Bettrand saß, drehte sich um und hörte genau hin. »Wird gemacht«, sagte Coldmoon, setzte sich auf und schob seine Füße in die Stiefel. »Was ist denn los?«
»Was los ist?«, wiederholte Pickett wütend und in eisigem Tonfall. »Es hat einen zweiten Mord in Miami gegeben, und meine leitenden Ermittler sind über tausendfünfhundert Kilometer entfernt und jagen sinnlos irgendwelchen irren Spuren hinterher. Und nun verschwinden Sie aus dem Motel und fahren Sie los.«
Dann war die Leitung unterbrochen.
12
Coldmoon war noch nie in South Beach gewesen. Er hatte nur Bilder davon auf Postkarten gesehen oder Fotos vom dortigen Nachtleben auf Internetseiten, die exotische Urlaube annoncierten. Jetzt, da ihr Taxi die Fahrt im Schneckentempo vom Miami International über die Insel beendet hatte und von der Fifth Street auf den Ocean Drive bog, bot sich ihm ein ziemlich anderes Bild. Im erbarmungslosen frühmorgendlichen Glast, ohne die Neonlichter und die gnädige Dunkelheit, wirkte der berühmte Boulevard langweilig und schäbig, und man sah, dass die Markisen der Hotels und die Sonnenschirme der Outdoor-Restaurants unter den Palmen von der Sonne ausgeblichen waren.
Was dagegen nicht anders war als am Abend – das waren die Menschenmassen. Selbst um neun Uhr morgens bevölkerten die Leute schon die Straße, sie trugen Shorts und T-Shirts, Bikinis und Sonnenhüte, die Handys fast ständig in Händen haltend und bereit für die nächste Gelegenheit für ein Selfie. Mehrere Häuserblocks weiter vorn sah Coldmoon eine größere Menschenansammlung, die nur eines bedeuten konnte.
Während das Taxi im Schritttempo weiter Richtung Norden fuhr, drehte sich Pendergast – er hatte während ihrer hektischen Bemühungen, von Maine nach Miami zu gelangen, statt den Inhalt der Polizeiakte von Katahdin mit ihm zu besprechen, größtenteils weiter geschwiegen – ihm zu. »Für den Fall, dass ich versäumt habe, es zu erwähnen: Ich möchte Ihnen dafür danken, dass Sie meinen Vorschlag, den Ort, an dem Elise Baxter Selbstmord beging, aufzusuchen, unterstützt haben. Da wir kein festes Verhaltensmuster des Mörders hatten, konnten wir unmöglich im Voraus wissen, dass er erneut zuschlagen würde, auch nicht, dass sich der Mord so schnell beziehungsweise in derselben Stadt ereignen würde. Trotzdem bedaure ich es, dass unsere Abwesenheit uns daran gehindert hat, zur Tatzeit hier gewesen zu sein.«
Coldmoon zuckte mit den Achseln. »Ich folge meinem Partner«, sagte er nicht zum ersten Mal. Und fügte dann hinzu: »Ob das nun richtig ist … oder falsch.«
Darauf richtete Pendergast den Blick aus seinen eissplitterfarbenen Augen wieder auf die Menschenansammlung vor ihnen.
Das Taxi rückte noch einige Häuserblocks voran, bis es schließlich ganz zum Stehen kam, blockiert von Fußgängern, Polizeiwagen und anderen Taxis. Coldmoon und Pendergast öffneten ihre Türen. Pendergast gab dem Taxifahrer ein großzügiges Trinkgeld, dazu Anweisungen, ihr Gepäck zu seinem Hotel zu bringen, dann drängelten er und Coldmoon sich durch den Pulk zu jenem Bereich voller Menschen, der – wie Coldmoon vorausgesehen hatte – ein mit Tatortband abgesperrtes Areal umgab. Erstmals sah er Presseleute in dem Gedränge, sie riefen Fragen, ohne eine Antwort zu bekommen, hielten ihre Mikros ausgestreckt.
Während sie sich an den Schaulustigen vorbeidrängelten, zeigten sie ihre Ausweise und duckten sich unter das Absperrband. Coldmoon nahm seine Umgebung kurz in Augenschein. Sie standen am Eingang einer schmalen Gasse, die zwischen einem vietnamesischen Restaurant und einem ultratrendigen Art-déco-Hotel in Richtung Westen verlief. Innerhalb der Absperrung standen hier und dort Grüppchen von Polizeibeamten, in Uniform und Zivil, die entweder mit Zeugen sprachen oder einfach nur Wache hielten. Weiter unten in der Gasse standen einige Mitarbeiter der Kriminaltechnik um etwas herum, das offensichtlich die Stelle war, an der die Tote aufgefunden worden war. Das andere Ende der schmuddeligen Gasse versperrten Polizeiwagen und Notfallfahrzeuge, deren zuckendes Blaulicht auf die Fassaden der umgebenden Häuser fiel.
Die Gegend war Coldmoon zwar nicht vertraut, aber was er da vor sich hatte, erkannte er sofort: den Tatort eines Mordes, an dem bereits jede Menge Ermittlungsarbeit geleistet worden war. Als er sich umblickte, all die Polizeibeamten sah, deren Dienstgrad an den verschiedenen Reversabzeichen und Schulterstreifen abzulesen war, kamen ihm die Worte von Joseph, dem legendären Anführer der Nez Percé, in den Sinn. Auch der weiße Mann hat viele Häuptlinge.