»Und wie kommen wir jetzt verdammt noch mal an einen Wagen?«, fragte er. »Und wo liegt der Tatort überhaupt? ›Miami-Stadt‹ finde ich als Beschreibung irgendwie vage.«
Pendergast duckte sich unter das Absperrband, drehte sich von dem Tatort weg und schlängelte sich mit schnellen Schritten zwischen den Schaulustigen hindurch. Coldmoon eilte ihm hinterher. Vor einem Souvenirshop blieb Pendergast stehen und nahm sich von einem Gestell nahe dem Eingang einen Stadtplan von Miami. Mit einer peitschenartigen Bewegung schlug er ihn auf. Zusammen spähten sie auf die Straßenkarte. Pendergast zeigte auf ein grünes Rechteck inmitten eines weitläufigen Straßennetzes. »Ecce!«
Coldmoon kniff die Augen zusammen in dem hellen Sonnenlicht. »Friedhof der Stadt Miami.«
»Circa sechs Kilometer entfernt von unserem derzeitigen Standort.«
Coldmoon blickte sich erneut um. Viele Pkws, die kaum vorankamen, aber keine Taxis, keine Limousinen, keine Polizeiwagen, die freie Sitze hätten anbieten können.
Der Ladenbesitzer hatte sie gesehen und kam hinter der Registrierkasse hervor. Pendergast steckte den Stadtplan achtlos ins Gestell zurück und begab sich schnellen Schrittes den Ocean Drive hinunter. Coldmoon schloss sich ihm an. Vor ihnen ragte eines der allgegenwärtigen Art-déco-Hotels des Stadtteils South Beach auf. Im Laufschritt eilte Pendergast über den geschwungenen Ocean Drive bis zur Gepäckträgerstation, wobei er den geparkten Autos und den Passanten geschickt auswich. Vor den Stufen des Hotels parkte ein einzelnes Taxi, die Sonne hatte den gelben Lack fast ausgeblichen. Der Kofferraum stand offen, und der Fahrer stellte gerade Koffer hinein, während ein korpulenter älterer Mann einer ebenfalls älteren Frau dabei half, auf dem Rücksitz Platz zu nehmen.
Pendergast stellte sich dem weißhaarigen Mann vor, schüttelte ihm die Hand und verneigte sich höflich vor der Frau. Coldmoon näherte sich, aber irgendwie merkte er, dass es richtiger wäre, sich im Hintergrund zu halten. Weitere Leute erschienen: Parkservice-Mitarbeiter, Hotelpagen, jemand, der wie ein Portier aussah. Eine Minute lang umringte dieses Grüppchen Pendergast und das ältere Paar und verdeckte Coldmoons Sicht auf die drei. Und dann löste sich die Gruppe langsam auf, der Hotelpage nahm das Gepäck aus dem Kofferraum und trug es ins Hotel zurück. Jetzt war es der weißhaarige Herr, der Pendergast die Hand schüttelte, nickend und strahlend übers ganze Gesicht. Während das Ehepaar die Stufen zum Hoteleingang hinaufstieg, hörte Coldmoon im Näherkommen die Abschiedsworte des älteren Herrn: »Und nochmals vielen Dank, mein Freund!«
»Schönen Tag noch.« Pendergast schlug die Kofferraumklappe zu und drängte Coldmoon anschließend in die immer noch offen stehende hintere Tür. »Nach Ihnen.«
Coldmoon glitt auf den Sitz. Der Taxifahrer, der das Ganze verwundert beobachtet hatte, runzelte die Stirn. »Was soll das, ese? Das wäre eine Vierzig-Dollar-Fahrt gewesen, Mann.«
»Ich glaube, Sie werden feststellen, dass diese Fahrt gewinnbringender sein wird«, sagte Pendergast, setzte sich neben Coldmoon und schloss die Tür. Er klappte seine Dienstmarke auf, zeigte sie dem Fahrer. »Kennen Sie den schnellsten Weg zum Friedhof der Stadt Miami?«
Offenbar war der Mann – Ende dreißig, mit kurzem Pferdeschwanz und der kubanischen Flagge auf einen Arm tätowiert – gar nicht beeindruckt. »Ja, klar.«
Pendergast griff in eine Tasche seiner Anzugjacke und zog ein dickes Bündel gefalteter Geldscheine hervor. »Wie schnell können Sie uns dort hinbringen?«
Der Taxifahrer stand immer noch auf dem Bürgersteig. »Bei dem Verkehr? Verdammt, in zwanzig, dreißig Minuten vielleicht.«
Pendergast warf eine Fünfzig-Dollar-Banknote auf den Beifahrersitz. »Wie wär’s mit zehn Minuten?«
Der Fahrer stieg ein und schnappte sich den Geldschein. »Mann, ich hab doch keine Flügel –«
Noch ein Fünfziger landete auf dem Beifahrersitz. »Dann sollten Sie sich vielleicht welche wachsen lassen.«
Der Taxichauffeur machte ein mürrisches Gesicht. »Hören Sie mal, ich hab schon drei Punkte in der Verkehrssünderkartei, und –«
»Sie vergessen, dass wir vom FBI sind. Befördern Sie uns einfach auf die schnellste, die allerschnellste Art und Weise dorthin.«
»Genau«, setzte Coldmoon hinzu, um dem Ganzen Nachdruck zu verleihen. Seiner Einschätzung nach könnte sich der Mann der Herausforderung womöglich sogar gewachsen zeigen – er sah eher aus wie der Fahrer eines Fluchtautos und weniger wie ein Taxichauffeur. Er spähte aufs Armaturenbrett und bemühte sich, die Taxilizenz zu entziffern. »Drücken Sie auf die Tube – Axel.«
Der Fahrer knallte die Tür zu, lenkte den Wagen von der Parkschleife des Hotels – und geriet fast augenblicklich in den Stau auf dem Ocean Drive.
Pendergast drehte sich Coldmoon zu. »Haben Sie eine bevorzugte Verkehrs-App auf Ihrem Handy?«
»Waze.«
»Öffnen Sie sie bitte. Sehen Sie nach, wie’s mit dem Verkehr bis zum Friedhof aussieht. Öffnen Sie außerdem eine Backup-App für den Fall, dass die vorgeschlagenen Routen voneinander abweichen.«
Das Taxi fuhr auf den Standstreifen, um dem Stau auszuweichen, und bog dann scharf links in die Ninth Street.
»Können Sie mir einmal erklären, was dort hinten passiert ist?«, fragte Coldmoon, während er sein Handy einschaltete und die Daten des Friedhofs von Miami-Stadt eingab.
»Einen Augenblick, bitte.« Pendergast beugte sich vor. »Welche Route nehmen Sie?«, fragte er den Fahrer.
An der Kreuzung Collins Avenue trat der Fahrer derart heftig auf die Bremse, dass sich Coldmoon am Haltegriff über dem Fenster festhalten musste. »Erst den Causeway, dann den Biscayne.«
Pendergast blickte fragend zu Coldmoon, der seinerseits auf sein Handy sah. Der MacArthur Causeway war als durchgehende rote Linie markiert, die sich von Miami Beach bis zum Festland erstreckte. Coldmoon schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte Pendergast.
»Was soll das heißen, nein?«, kam die Antwort vom Fahrersitz. »Wollen Sie nun dahin oder nicht?«
»Der Venetian Way scheint mir die bessere Wahl«, sagte Coldmoon, während er zwischen den Verkehrs-Apps hin und her wechselte.
»Über die Inseln? Sie sind ja irre, Mann –«
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, unterbrach Pendergast. »Mein Freund hier gibt Ihnen die Route vor, Sie werden ihr folgen und – falls nötig – sämtliche Straßenverkehrsregeln brechen, damit wir ohne Verzögerung vorankommen. Und ich werde Ihnen dafür weiterhin Geld überreichen. Was halten Sie davon?« Und damit zog er erneut einen Fünfziger hervor und warf ihn auf den Beifahrersitz.
Der Fahrer, Axel, warf einen kurzen Blick auf die Banknote, dann raste er, indem er erneut Vollgas gab, unter dem Gehupe und Gebremse der anderen Verkehrsteilnehmer los. Er holte aus der alten Karre wirklich das Letzte heraus, fand Coldmoon.