»Licht einschalten, bitte, und nehmen Sie den Grünstreifen bis zur Ampel«, sagte Pendergast.
»Was immer.« Das Taxi fuhr auf den Bordstein und bretterte leicht schleudernd über die Rasenfläche.
»Rechts in die Meridian, links in die Siebzehnte«, wies Coldmoon den Taxichauffeur an.
Pendergast lehnte sich zurück, während das Taxi wieder auf die Fahrbahn bog und, begleitet von einem Hupkonzert, die Meridian Avenue entlangraste.
»Also, was ist dort hinten geschehen?«, fragte Coldmoon.
Pendergast machte es sich bequem auf dem Sitz. »Das war ein reizendes Ehepaar aus Brisbane auf dem Weg nach Orlando. Ich habe ihnen davon abgeraten und darauf hingewiesen, dass es weitaus klüger wäre, noch einen Tag länger im Hotel zu bleiben – natürlich in einem Zimmer mit Upgrade, für das sie nicht bezahlen müssen.«
»Warum haben Sie nicht einfach Ihre Dienstmarke gezeigt und denen das verdammte Taxi weggenommen?«
»Einem so reizenden älteren Paar? Wie ungehobelt.«
»Also haben Sie sie mit einem Betrug um ihre Taxifahrt gebracht.«
»Ich habe ihnen einen Gefallen erwiesen. Kein zivilisierter Mensch sollte freiwillig in Orlando den Fuß auf den Boden setzen müssen. Ich habe angedeutet, dass das World Erotic Art Museum die bessere Wahl wäre, es liegt nur einen Steinwurf vom Hotel entfernt.«
Das Taxi bog in die Siebzehnte, dann beschleunigte es derart dramatisch, dass es Pendergast und Coldmoon in die Sitze drückte. Gekonnt steuerte der Fahrer das Taxi in Schlangenlinien zwischen den Autos hindurch, hupend und schleudernd, bis er schließlich über den Rand des Bürgersteigs fuhr.
»Bitte fahren Sie bei Rot über die Kreuzung.« Begleitend zu dieser Aufforderung landete erneut ein Fünfziger auf dem Beifahrersitz.
Der Taxifahrer kam dem Wunsch nach und setzte seine rasende Fahrt fort. Coldmoon checkte erneut die Apps. Es herrschte dichter Verkehr auf allen Routen, aber diese stellte das kleinste Übel dar.
Auf einmal tauchte vor ihnen ein weiter Blick auf intensives Blau auf – die Biscayne Bay. Eine halbe Minute darauf ging die Straße in eine Brücke über, die zwei parallele Reihen rautenförmiger Inseln teilte, die grün und weiß unter dem blauen Himmel glitzerten, wie Juwelen an einem Fabergé-Ei. Coldmoon blickte ungläubig auf die glänzenden Hochhäuser mit ihren Eigentumswohnungen und die Jachthäfen – von unzähligen Palmen gesäumt, schienen sie wie Traumschlösser dem tropischen Gewässer zu entsteigen. Hätte man ihm während seiner Kindheit im Pine Ridge Reservat ein Foto von so einem Ort gezeigt, hätte er angenommen, dass er aus einem Märchenbuch stammte.
Heftiges Gekreische von Bremsen unterbrach Coldmoons Gedanken, und er wurde erneut mit dem Hinterkopf gegen die Kopfstütze geschleudert. Als er sich davon erholt hatte, sah er vor sich eine lange Reihe von Bremslichtern und etwas, das ein Unfall zu sein schien. Pendergast und der Fahrer blickten ihn erwartungsvoll an.
»Na?«, fragte Axel. »Was jetzt, Davy Crockett?«
Coldmoon schaute auf sein Handy. Sie befanden sich am östlichen Rand der Vivo-Alto-Insel. »Biegen Sie links ab, zweimal rechts, dann wieder zurück auf den Venetian Way.«
Wortlos drehte der Fahrer das Lenkrad, raste auf die Gegenfahrbahn, fuhr ein paar Hundert Meter weiter und bog dann nach links ab, wobei das Heck ausbrach. Wieder ließ Pendergast einen Fünfzig-Dollar-Schein sanft auf den Beifahrersitz fallen.
»Wissen Sie, es wäre vermutlich leichter gewesen, einen Heli zu mieten«, sagte Coldmoon.
Zu seiner Überraschung nahm Pendergast den Vorschlag ernst. »Alles wäre besser gewesen als dieser furchtbare Verkehr.« Einen Moment lang schwieg er. »Das ist das zweite Mal, dass ich zu spät zu einem Tatort komme. Ein drittes Mal wird es nicht geben.«
Das Taxi, das abermals in Schlangenlinien über beide Fahrbahnen fuhr, bretterte jetzt über die letzte Insel in der Kette und näherte sich der Brustwehr der Hotels, die die Küste des Festlands säumten. »Rechts in die Second Avenue«, sagte Coldmoon, als er sah, dass auch die Route 1 aufgrund der weiter vorn befindlichen Bauarbeiten kaum besser als ein Parkplatz war.
Anstatt dass der Fahrer antwortete, raste das Taxi über eine Kreuzung, dann noch eine, wobei es fast von einem Umzugswagen seitlich gerammt worden wäre, bog dann auf beängstigende Art und Weise rechts auf die Second, dass die Hinterreifen rauchten, nutzte erneut den Mittelstreifen und fuhr in Schlangenlinie zwischen den Palmen hindurch, als befände es sich auf einem Ski-Slalom-Kurs. Schließlich kam der Wagen erneut ruckartig zum Stehen. Diesmal allerdings mehr oder weniger endgültig. Vor ihnen staute sich der Verkehr auf sämtlichen Fahrspuren, offenkundig blockiert durch die Bauarbeiten und den Verkehr, der von der Route 1 kam.
»Verdammt«, murmelte der Fahrer.
Aber noch während er das sagte, warf Pendergast einen Geldschein auf den Beifahrersitz und stieg aus. Coldmoon stieg ebenfalls aus. Drei Häuserblocks weiter zeichnete sich eine Grünfläche ab: der Friedhof.
»Elf Minuten«, sagte Pendergast. »Ausgezeichnet. Vielleicht treffen wir dort sogar früher ein als unser Freund, der Lieutenant.« Und damit schlängelte er sich zwischen den Autos hindurch auf den Bürgersteig und begab sich lässigen, aber raschen Schrittes Richtung Norden.
14
Special Agent Coldmoon nickte den beiden Polizisten zu, die das Tor bewachten, und betrat den Friedhof der Stadt Miami. Weitere Polizeiwagen trafen ein, und die Aktivitäten intensivierten sich. Er blieb stehen und nahm die Szenerie kühl in Augenschein, während Pendergast lockeren Schrittes weiterging. Eine Asphaltstraße teilte den Friedhof, ein großes Areal mit Rasenflächen, umgeben von einem grün gestrichenen Zaun und beschattet von knorrigen Eichen. Die Hauptallee säumten Grabsteine und Mausoleen verschiedener Stile und Formen, manche verfallen, andere gut erhalten. Der Friedhof wirkte ehrwürdig und war – den Mausoleen nach zu urteilen – die letzte Ruhestätte einiger ziemlich reicher Leute. Dennoch handelte es sich um einen merkwürdigen Ort für eine Begräbnisstätte, beinahe im Schatten von Downtown Miami.
Nachdem er den Geist des Ortes in sich aufgenommen hatte, ging Coldmoon mit langen Schritten auf das Mausoleum zu, in dem das Herz offenbar aufgefunden worden war, ein düsterer Tempel aus Granit, abgesperrt mit Tatortband, umgeben von einer zunehmenden Menschenmenge, bestehend aus Polizisten und Forensik-TeaMs Pendergast war nirgends zu sehen. Coldmoon sprach einen der örtlichen Polizisten an und erfuhr, dass man das Mausoleum in ungefähr einer halben Stunde geräumt haben werde, sodass sie dann hineingehen könnten.
Coldmoon machte einen gemächlichen Spaziergang hinter dem Absperrband und prägte sich möglichst viele Details des Tatorts ein. Dieses spezielle Mausoleum war aus mächtigen Steinquadern errichtet, links und rechts vom Eingang stand je eine Urne aus Naturstein, die schwere Kupfertür war von Grünspan überzogen. Über dem Türsturz war der Name FLAYLEY eingemeißelt. Als Coldmoon durch die offene Eingangstür ging, sah er vor sich einen heruntergekommenen, hell erleuchteten Innenraum, in dem zwei Kriminaltechniker in weißen Anzügen umhergingen. Sie erinnerten Coldmoon an die Geister seiner Vorfahren, verwirrt und umherwandernd, nach der Befreiung von ihren irdischen Fesseln strebend. Hinter dem Mausoleum entdeckte er eine Gestalt: ein Trauernder in Schwarz, kniend, der Kopf gramgebeugt. Dann wurde ihm klar, dass es Pendergast war. Als er zu ihm hinüberschlenderte, sah er, dass sein Partner den Rasen inspizierte, mit der Nase praktisch in der Erde. In der Hand hielt er eine Pinzette.
»Und? Was gefunden?«
»Noch nicht.« Trotzdem holte Pendergast von irgendwo ein Teströhrchen hervor, tat mit der Pinzette irgendwas Unsichtbares hinein und stand auf. Er setzte seinen Weg um das Mausoleum fort, als wollte er, dachte Coldmoon, »die Fährte lesen« – ein Trick beim Verfolgen von Wild, den er selbst während seiner Kindheit erlernt hatte.
»Ich würde ein zweites Paar Augen auf dem Boden sehr zu schätzen wissen«, sagte Pendergast. »Ich suche nach Spuren, um festzustellen, wo der Täter auf das Gelände gekommen ist und wo er es wieder verlassen hat.«