»Weil in der letzten Nacht Vollmond war und wolkenloser Himmel, nehmen Sie an, dass er nicht auf der Service-Straße aufs Gelände gekommen ist.«
»Genau.«
Sie machten einen quälend langsamen Rundgang und hoben jeden einigermaßen vielversprechenden Gegenstand auf, den sie finden konnten. Als sie schließlich zu der Stelle zurückkehrten, an der sie angefangen hatten – ohne Erfolg, schien es Coldmoon –, blickte Pendergast aus leicht zusammengekniffenen Augen auf das Mausoleum. »Ah. Endlich ist die Kammer der Toten bereit.«
Die Kriminaltechniker packten unter den aufmerksamen Blicken von Lieutenant Sandoval ihre Sachen zusammen und zogen ihre Anzüge aus. Coldmoon duckte sich hinter Pendergast unter das Absperrband und betrat das Mausoleum.
Rechts und links waren die Wände von Nischen unterbrochen, drei Reihen zu je fünf Wandfächern, was insgesamt dreißig Schiebegräber ergab, alle verschlossen, bis auf eines hinten links. Jedes Schiebegrab war mit einer Marmorplakette bedeckt, darauf ein Name und die Daten eingemeißelt, aber ein paar der Plaketten waren gesprungen und auf den Boden gefallen, sodass die verrotteten Särge in den Wandfächern sichtbar waren. Auf dem Boden lag eine dicke Staubschicht, außerdem gab es Indizien, dass es hier Ratten gab, die Wände waren nach längeren Dachleckagen fleckig.
Während Pendergast schweigend umherging, konzentrierte sich Coldmoon auf das Schiebegrab, dessentwegen sie hier waren. Es gehörte zu jenen jüngeren DatuMs
Agatha Brodeur Flayley
2. September 1975
12. März 2007
Die Marmorplakette war entfernt und beiseitegelegt worden. Vor dem Sarg, an einer Schnur hängend wie Weihnachtsschmuck, befand sich ein menschliches Herz, ganz leicht hin und her pendelnd in einem grob gefertigten Netz aus Bratengarn. Unten am Herz hing ein Tropfen geronnenen Bluts wie ein Eiszapfen. Auf dem Boden darunter hatte sich eine klebrige Blutlache gebildet.
An das Herz war mit einer großen Windelnadel ein beschriebener Zettel befestigt. Coldmoon näherte sich ihm vorsichtig, fotografierte ihn mit seinem Mobiltelefon und trat einen Schritt zurück, um ihn lesen zu können.
Meine liebste Agatha,
Dein Ende war das abscheulichste von allen, und das tut mir aufrichtig leid. Der Tod liegt auf Dir wie ein verfrühter Frost. Doch weil ich ein Mann der Tat und nicht nur der Worte bin, habe ich Dir zum Zeichen meiner Abbitte ein Geschenk mitgebracht.
Liebe Grüße
Mister Brokenhearts
»Mister Brokenhearts hält sich vermutlich für einen literarisch gebildeten Menschen«, sagte Pendergast, als er von hinten auf Coldmoon zuschritt.
»Sie meinen das Zitat aus Romeo und Julia?«
Zu Coldmoons Genugtuung hob Pendergast ein wenig verblüfft die Brauen. »In der Tat. Wir können dieses Zitat der Zeile aus T. S. Eliots Gedicht im vorherigen Brief hinzufügen.«
»Lass uns nun gehen, Du und ich, wenn der Abend gegen den Himmel ausgebreitet ist«, sagte Coldmoon auf. »Ich hab im ersten Studienjahr ein paar Kurse in Englischer Literatur belegt«, sagte er zur Erläuterung.
»In der Tat. Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, was J. Alfred Prufrock mit dem hier zu tun hat –«, Pendergast deutete auf die XXL-Windelnadel, deren limonengrüner Plastikkopf die Gestalt einer »Teenage Mutant Ninja Turtle« hatte, »– außer unser Mörder will damit andeuten, dass er einen drolligen Humor hat.«
Solange Coldmoon Fotos machte, setzte sich Pendergast wieder auf Hände und Knie, um den Boden zu untersuchen, und hob mit der Pinzette da und dort weitere kaum sichtbare Gegenstände auf. Während Pendergast so vor sich hin arbeitete, vernahm Coldmoon von draußen eine Stimme, sie klang ganz aufgeregt und hatte einen ausgeprägten Florida-Akzent, außerdem die ruhigeren Worte von Lieutenant Sandoval.
»Ah, der Mann, der das Herz gefunden hat«, sagte Pendergast und erhob sich. »Wollen wir kurz mit ihm sprechen?«
Der Mann erzählte – zum wiederholten Mal – Sandoval gerade die Geschichte, wie er das Herz entdeckt hatte. Coldmoon schaltete sein Aufzeichnungsgerät ein und steckte es in eine der Vordertaschen seiner Hose.
»Guter Mann«, sagte Pendergast, »wir haben Ihre Geschichte noch nicht gehört. Dürfen wir zuhören?«
»Natürlich. Ich hab dem Polizisten hier gerade gesagt –«
»Sie heißen?«
»Joe Marty. Ich arbeite hier tagsüber als Friedhofsaufseher. Aber egal, nachdem ich beim Mausoleum hier angekommen war, hab ich meine Runde gedreht, und da sehe ich, dass die Kupfertür offen steht. Ich denk bei mir, das war gestern doch anders. Das geht doch gar nicht. Ich hab diese Mausoleen immer im Blick, meine Herren. Eine Menge berühmter Leute liegen hier, und wir wollen nicht, dass sich irgendwer an den Gräbern zu schaffen macht und Andenken mitgehen lässt. Also, ich sehe, dass die Tür leicht offen steht, und werfe einen Blick ins Mausoleum. Erkenne aber nichts. Also schieb ich die Tür etwas weiter auf und geh rein. Immer noch nichts.«
Er hob die Stimme, steuerte auf den Höhepunkt seiner Erzählung zu.
»Aber da war so ein komischer Geruch. Verdorben, Sie wissen schon. Also hab ich mich umgedreht und bin mit dem Kopf gegen das Ding da gestoßen, sodass es hin- und herschwang, verstehen Sie? Und da sag ich zu mir, hier drin sollte doch nicht so was hängen. Also nehm ich das Ding in die Hand, und es ist ganz feucht und klebrig, und da war dieses Blatt Papier dran festgesteckt, und ich lass es sofort wieder los. Und da sehe ich, dass meine Hand mit irgendwas überzogen ist, also halt ich sie ins Licht, und es sieht wie Blut aus, und da hab ich angefangen zu schreien. Ja, Sir, ich hab geschrien, wie Sie’s nicht für möglich gehalten hätten. Dann hab ich den Manager angerufen, und der hat die Polizei angerufen, und da wären wir! Und ich will Ihnen mal was sagen –«
Geschickt unterbrach Pendergast diesen Schwall von Worten mit einer Frage. »Wann sind Sie hier an Ihrem Arbeitsplatz erschienen?«
»Um sieben. Da fang ich immer an. So was wie das ist hier noch nie passiert –«
»Als Sie das Herz angefasst haben«, fragte Pendergast, »haben Sie da bemerkt, ob es noch warm war?«
»Oh, Mist, daran hab ich gar nicht gedacht. Aber jetzt, wo Sie’s erwähnen – das Ding war wirklich ’n bisschen warm.« Er schauderte.
»Haben Sie irgendwelche Ideen, wie der Mörder möglicherweise aufs Friedhofsgelände gelangt ist und es wieder verlassen hat?«
»Ach, der Zaun ist doch nicht hoch genug, um irgendwen fernzuhalten. Wir haben hier Kids, die kommen aufs Gelände, trinken Bier, urinieren – alles sehr respektlos.«
»Oft?«
»Oft genug, verdammt noch mal.«
»Vielen Dank. Agent Coldmoon, haben Sie weitere Fragen?«
Coldmoon sah, dass Joe Marty den Blick aus seinen kleinen, feuchten Augen auf ihn richtete. »Kommen jemals Menschen her, um das Mausoleum zu besuchen? Blumen abzulegen?«
»Nein, das ist eins von denen, um die sich keiner kümmert.«
»Wer ist verantwortlich für die Grabpflege?«
»Wir pflegen die Friedhofsanlage, aber die Grabstellen selbst gehören der Familie, und die Angehörigen müssen sich selber um das Grab kümmern. Viele tun das nicht, was eine gottverfluchte Schande ist –«
»Kennen Sie die Familie Flayley?«
»Nie von ihr gehört. Ist nicht berühmt, so wie einige andere hier drin. Vielleicht sind die Angehörigen auch alle gestorben oder leben weit weg. So was passiert. Es macht mir nichts aus, Ihnen zu sagen, dass mir fast das Blut in den Adern gefror, als ich gesehen hab, wie das Herz da hin- und herschwang.«
»Das kann ich gut verstehen«, sagte Coldmoon. »Vielen Dank.«
Joe Marty zog von dannen, dahin und dorthin blickend, auf der Suche nach einem anderen, dem er erzählen konnte, was er alles erlebt hatte. Coldmoon sah, dass am Eingang zum Friedhof die Presseleute in Scharen eintrafen und von der Polizei zurückgehalten wurden.