Ein Beamter der Mordkommission näherte sich, er hatte einen Seersucker-Anzug an und trug zwei Akten unterm Arm. Er reichte die Akten Sandoval, der eine davon rasch durchblätterte, dann an Pendergast weiterreichte. »Das hier sind die ersten Background-Informationen zu Agatha Flayley. Noch ein Suizid. Die Frau wurde gefunden, als sie von einer Brücke in Ithaca, New York, hing.«
»Vielen Dank.« Während Pendergast die Akte entgegennahm, sah Coldmoon aus dem Augenwinkel eine schnelle Bewegung: Ein hochgewachsener, schlaksiger Mann in Hawaiihemd und Röhrenjeans, Hipster-Hut auf dem Kopf, näherte sich mit raschen Schritten. Als er merkte, dass sie sich zu ihm umwandten, rief er: »Könnte ich mal kurz mit Ihnen sprechen, meine Herren –«
Ein Reporter. In Sandovals Miene spiegelte sich Verärgerung. »Sieh mal einer an, wer hier ist. Wissen Sie denn nicht, dass hier der Zutritt verboten ist?«
Der schlaksige Mann zeigte irgendeine Art Ausweis vor. »Ach, kommen Sie, Lieutenant, denken Sie doch mal an all die Gefallen, die ich Ihnen erwiesen habe! Bitte, nur ein, zwei Fragen, mehr nicht.«
»Treten Sie hinter die Absperrung.«
»Warten Sie, nur eine –« Plötzlich erschrak der Reporter. Ungläubig sah er Pendergast an. »Sie!«
Coldmoon warf seinem Partner einen kurzen Blick zu. In dessen normalerweise ausdruckslosem Gesicht zeigte sich Überraschung – was selten vorkam.
»Was machen Sie denn hier?«, fragte der Reporter.
Sandoval seufzte verärgert. »Smithback, treten Sie hinter die Absperrung, bevor ich Sie von meinen Leuten abführen lasse. Sie wissen genau, dass das hier ein gesperrter Bereich ist.«
»Warten Sie, bitte.« Der Reporter trat einen Schritt auf Pendergast zu und streckte seine Hand aus. »Agent Pendergast. Wie geht es Ihnen?«
Einen Augenblick lang schwieg Pendergast. »Gut. Danke.« Widerstrebend ergriff er die Hand, die Smithback kräftig schüttelte.
»Sie kennen diesen Mann?«, fragte Sandoval Pendergast.
Aber Smithback drehte sich um und beantwortete selber die Frage. »Natürlich kennt er mich.«
»Also gut, Sie haben uns begrüßt. Aber nun treten Sie wieder zurück hinter die Absperrung.« Sandoval winkte zwei Uniformierten und rief: »Sergeant Morrell, können Sie und Gomez diesen Kerl hinausbegleiten?«
»Pendergast, bitte!«
Pendergast hatte sich gefasst. »Mr Smithback, ich bin überrascht, Sie hier zu sehen. Ich hoffe, es geht Ihnen gut.«
»Bestens, danke.« Der Reporter blickte kurz zu den herbeieilenden Beamten und senkte die Stimme. »Hm, warum befasst sich das FBI mit dem Fall?«
»Aus zwei Gründen: Einerseits weist der Fall ungewöhnliche psychologische Aspekte auf, für die sich unsere Abteilung für Verhaltensanalyse interessiert. Zum anderen gehören die ins Visier genommenen Gräber zu Personen, die in anderen Bundesstaaten Selbstmord begangen haben, was die Ermittlungen seitens der Bundespolizei ausgelöst hat.«
»Ins Visier genommen – wie?«
»Bedaure, wir können nicht in die Details gehen.«
»Okay, aber –« Inzwischen hatten die beiden Polizisten den Mann an den Armen gepackt und führten ihn ab. »Handelt es sich um einen Serienmörder?«
Statt zu antworten, drehte sich Pendergast zu Coldmoon um, der ihn fragend ansah. Sandoval tat das Gleiche.
»Für den Fall, dass Sie sich wundern«, sagte Pendergast. »Ich habe seinen Bruder gut gekannt. Eine tragische Geschichte. Ich erzähle Ihnen später davon.«
Coldmoon nickte. Er bezweifelte, dass er die Geschichte jemals hören würde, aber andererseits war er sich auch nicht sicher, ob er das wirklich wollte.
15
Die Außenstelle des Federal Bureau of Investigation in Miami war eine der bekannteren im Land, da ihr Zuständigkeitsbereich nicht nur die neun Bezirke von Florida, sondern auch Mexiko, die Karibik sowie ganz Mittel- und Südamerika umfasste. Untergebracht war sie in einem Hightech-Gebäude mit bläulichen Glasfronten, das die Straßen der nordwestlich von Miami gelegenen Stadt Miramar überragte. Es handelte sich um das spektakulärste Bauwerk, das Coldmoon je gesehen hatte: Es ähnelte eher einer postmodernistischen Skulptur als einem Gebäude des FBI. Er versuchte, sich einzureden, dass er nicht im Geringsten eingeschüchtert sei.
Er betrat hinter Pendergast das Konferenzzimmer im ersten Stock, in der Mitte stand ein Tisch aus Mahagoni, darum mit Leder bezogene Stühle. Die interaktiven Whiteboards und 5K-Monitore waren technisch auf dem allerneuesten Stand. Coldmoon wünschte, er hätte seine tröstende Thermosflasche mit dem Camp-Coffee bei sich. Unerwarteterweise war er das Bild des hängenden Herzens, daran der Zapfen aus Blut, das ihn schon seit dem Morgen heimsuchte, nicht wieder losgeworden.
Sie waren früh dran. Weitere Agenten trafen ein – die meisten aus dem Büro in Miami –, nickten ihnen zu, murmelten ein paar Begrüßungssätze und setzten sich. Nachdem alle anwesend waren und die Uhr drei Minuten nach der vollen Stunde zeigte, ging die Tür auf, und Assistent Director in Charge Walker Pickett betrat mit langen Schritten den Raum, gefolgt von einem etwas merkwürdig anmutenden, ein wenig schlurfenden Mann mit Hornbrille und in schlecht sitzendem Anzug, vom Typus eher Bibliothekar als FBI-Agent. Pickett ging schnurstracks zum Kopfende des Tisches, legte einen Stapel Aktenmappen darauf ab und sagte im Stehen: »Guten Tag, meine Damen und Herren.«
Wie üblich war Pickett tadellos gekleidet und sehr gepflegt, der Inbegriff eines FBI-Agenten. Er strahlte Überzeugungskraft, Coolness und ein raumfüllendes Selbstbewusstsein aus.
»Ich möchte Ihnen Dr. Milton Mars vorstellen, er leitet das Team vier für Verhaltensanalyse. Er wird Ihnen gleich das psychologische Profil des Täters vorstellen. Zunächst aber möchte ich Sie darüber informieren, was wir über den jüngsten Mord wissen.«
Bewundernswert kurz und knapp unterrichtete er sie über den Mord an Jennifer Rosen. Auf Grundlage der forensischen Analyse schien es sich um einen Zufallsmord zu handeln, schnell und »fachmännisch« ausgeführt, bei dem in Bezug auf konkrete Beweise so gut wie nichts zurückgelassen worden war. Sodann kam er auf die Empfängerin des Herzens zu sprechen.
»Als Agatha Brodeur Flayley aufgefunden wurde, hing sie von einer Brücke in Ithaca, New York. Die junge Frau war zu Besuch an der Cornell University, wo sie sich um eine Stelle bewarb. Wie es scheint, verlief das Vorstellungsgespräch nicht besonders erfolgreich. Alle Indizien deuten auf Selbstmord hin, und als solcher wurde der Tod auch von der lokalen Gerichtsmedizin bewertet. Wir haben das entsprechende abschließende Gutachten vorliegen. Ms Flayley war unverheiratet, ihr Leichnam wurde in der Gruft der Familie Flayley hier in Miami beigesetzt, unter den Bestimmungen einer lange bestehenden Familienstiftung. Wir sammeln noch Hintergrundinformationen zu der Frau.« Er machte eine Pause. »Das Morddezernat in Miami hat natürlich nach Verbindungen zwischen den neuen Mordopfern und den vorhergehenden Selbstmorden gesucht. Wir haben keine gefunden. Ich denke, wir können unter der Annahme fortfahren, dass der Mörder möglicherweise seine Suizid-Opfer auswählt, allerdings aufs Geratewohl, ohne dass weitere Verbindungen bestehen, historische oder sonst welche.«
Ein leiser Chor der Zustimmung; mehrere Anwesende nickten. Auch Coldmoon hatte keine Idee, auf welche Weise die jahrzehntealten Selbstmorde mit den jüngsten Morden in Verbindung stehen könnten. Er schaute zu Pendergast, doch außer seiner üblichen maskenhaften Miene war da nichts zu erkennen.
»Und jetzt, Dr. Mars?«
Der Mann mit der Hornbrille stand auf und nickte freundlich in die Runde. »Sie alle sind zweifellos mit ViCap vertraut, dem Programm des FBI zur Erfassung von Gewaltkriminalität. Dort ist auch die zentrale Datenbank der Teams zur Verhaltensanalyse angesiedelt.« Selbst in diesem großen Raum hatte die näselnde Stimme des Mannes einen seltsam kräftigen Klang.
»Das menschliche Verhalten lässt sich in zwei Kategorien unterteilen. Kein Verhalten ist wirklich einzigartig. Die ViCap-Datenbank umfasst alle uns bekannten Serienmörder: Modus Operandi, Opfer-Daten, Tatortbeschreibungen, Laborberichte, Vorstrafenregister, Zeugenaussagen, psychologische Analysen – kurzum: alles, was mit der jeweiligen Straftat in Verbindung steht. Indem wir die Fakten, die wir über einen bestimmten Serienmörder kennen, in die Datenbank eingeben, können wir oftmals jene Sachverhalte erschließen, die wir noch nicht kennen. Das haben wir bei Brokenhearts getan – der zugegebenermaßen einen Mord zu wenig begangen hat, um als Serienmörder zu gelten –, und ich werde Ihnen jetzt die Ergebnisse vorlegen. Bitte zögern Sie nicht, mich mit Fragen zu unterbrechen.«