»Ich würde mir da keine Sorgen machen«, sagte Pendergast und legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. »Keine der beiden Hälften von Ms Flayley dürfte Ihnen gram sein.«
17
Dr. Charlotte Fauchet arbeitete nicht gern in Gegenwart von Gaffern, mochten es nun Cops oder Bundespolizisten sein. Die Unerfahrenen gaben oft unwillkürliche Laute von sich, atmeten laut oder übergaben sich sogar. Aber was noch schlimmer war: Die Erfahrenen versuchten, mit Scherzen und schwachsinnigen Bemerkungen unter Beweis zu stellen, dass sie total locker drauf waren.
Die Arme vor der Brust verschränkt, wartete sie neben der Rolltrage. Der Leichnam befand sich noch im geschlossenen Transport-Leichensack. Der leitende FBI-Agent betrat als Erster den Raum. Ein typischer Bundespolizist, der gebügelte blaue Anzug schaute unter dem Kittel hervor, das grau melierte Haar kurz geschnitten, markantes Kinn, breite Schultern. Ihm folgte ein auffällig blasser Mann im schwarzen Anzug, der aussah wie viele der Bestattungsunternehmer, mit denen sie schon zu tun gehabt hatte – nur dass kein Bestatter, den sie je getroffen hatte, so durchdringende blassblaue Augen besaß. Offenkundig waren die beiden Männer hohe Tiere, was auf die Bedeutung des Falls hinwies. Aber ob nun bedeutend oder nicht, sie würden in ihrem Obduktionssaal keine Privilegien genießen. Und es würde auch keine kumpelhaften Vorstellungen oder Händeschütteln geben, was im Obduktionssaal ohnehin verboten war.
Diesem Duo folgte ein jüngerer Mann mit etwas längeren, in der Mitte gescheitelten schwarzen Haaren, dessen ethnische Zugehörigkeit sie nicht genau einordnen konnte. Alle wirkten auf zufriedenstellende Weise unbehaglich in den Kitteln, und als sie sich vor dem Leichnam aufstellten, schenkte sie ihnen einen unfreundlichen, schroffen Blick. »Gentlemen«, sagte sie, sobald sie sich vorgestellt hatten, »die Regeln sind simpel.« Sie blickte alle nacheinander an. »Regel Nummer eins: Kein Reden, keine Fragen, es sei denn, es ist absolut nötig. Regel Nummer zwei: Stille. Das bedeutet: kein Flüstern, kein Rascheln. Regel Nummer drei: Kein Lutschen von Pfefferminzbonbons. Wenn Sie merken, dass Ihnen übel wird, verlassen Sie bitte sofort den Raum.«
Nickende Einwilligung.
»Ich werde während der Obduktion laut sprechen. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich nicht mit Ihnen sprechen werde, ich spreche zu dem Videorekorder.«
Wieder Nicken. Die Herren waren auf angenehme Weise kooperativ – zumindest bislang.
»Vielen Dank. Ich werde jetzt beginnen.«
Sie wandte sich der Leiche zu, die auf einem Krankenbett neben der Tragbahre lag. Die Leiche hatte eine ungewöhnliche Gestalt. Ihr Vorgesetzter, der Chef der Rechtsmedizinischen Abteilung, Dent Moberly, hatte sie vorgewarnt, dass sich die sterbliche Hülle in einem schlechten Zustand befände und die Arbeit daher eine Herausforderung darstellen würde. Umso besser. Fauchet, die erst fünf Jahre zuvor das Medizinstudium beendet hatte, hatte den Ehrgeiz, eine rechtsmedizinische Abteilung in einer Großstadt zu leiten – vorzugsweise New York. Es waren die schwierigen, die gefeierten Fälle, die sie dorthin bringen würden, wohin sie wollte. Sie war froh, dass Dr. Moberly ausnahmsweise einmal nicht darauf bestanden hatte, ins Rampenlicht zu treten.
Sie begann, indem sie die Informationen aus der Akte verlas – den Namen der zu untersuchenden Person, die persönlichen Daten, das Datum des Todes und die ermittelte Todesursache. Dann zog sie den Reißverschluss des Leichensacks auf und nickte dem Sektionsgehilfen zu, der im Hintergrund wartete. Der Gehilfe trat vor und bettete die sterblichen Überreste fachmännisch aus dem Leichensack auf die Tragbahre um.
Sie begann mit den allgemeinen Feststellungen. »Ich sehe, dass der Leichnam erheblichem Verfall ausgesetzt war. Dazu haben offenbar eine Reihe von Feucht-Trocken-Zyklen geführt: Verwesung, gefolgt von Austrocknung.« Es roch zwar immer noch nach Balsamierflüssigkeit, diese hatte es aber nicht vermocht, die Verheerungen der Fäulnis einzudämmen. Der Leichnam war zweigeteilt, und schon bei ihrer ersten, groben Durchsicht erkannte Dr. Fauchet, dass sein schlechter Erhaltungszustand die ursprüngliche – und offenbar hastige – Obduktion praktisch überflüssig gemacht hatte. Im Grunde musste sie ganz von vorne anfangen.
Umso besser.
Sie begann mit einem neuen Y-Schnitt, hierzu reichte ihr der Sektionsgehilfe eine Schere, damit sie den Brustkorb öffnen konnte. Die Knochen waren morsch und brüchig wie trockenes Reisig. Die Organe waren bereits bei der Obduktion elf Jahre zuvor entfernt und anschließend wieder in die Körperhöhle zurückgelegt worden – jetzt handelte es sich dabei um kaum mehr als um verschrumpelte schwarze Klumpen, die im fortgeschrittenen Zustand der Verwesung an der Bauchhöhlenwand anhafteten. Schon bald war Dr. Fauchet »im Tunnel«, wie sie jene Zeit nannte, da sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Leiche konzentrierte und alles andere ausblendete. An der Genitalregion angekommen, ging sie langsamer vor und nahm eine überaus sorgsame Präparation vor. Es handelte sich hier schließlich um eine forensische Obduktion, insofern musste die Möglichkeit sexueller Gewalt in Betracht gezogen werden. Doch diese Leiche war derart zerstört, dass man kaum etwas erkennen konnte – außer der Arbeit des ursprünglichen Rechtsmediziners und der gröbsten Verletzungen.
Die Uhr tickte. Die drei Zuschauer verhielten sich weiterhin still, was sie mit Genugtuung zur Kenntnis nahm. Und ihr Chef ließ sich Gott sei Dank auch nicht blicken.
Schließlich wechselte sie zum Kopf. Dem Gutachten zufolge hatte sich die Verstorbene erhängt. Fauchet runzelte die Stirn, als sie sah, dass der Mediziner, der die erste Obduktion durchgeführt hatte, den Hals kaum untersucht hatte, obwohl dieser beim Tod der Frau eine große Rolle gespielt hatte. Sie nahm einen u-förmigen Schnitt im vorderen Bereich des Halses vor und begann eine gewissenhafte Präparation, befreite den Kopfwendemuskel von den unteren Ansätzen, legte die Halsschlagaderscheide und die Schlagader frei, den Vagusnerv sowie den Schulter-Zungenbein-Muskel und den Brustbein-Zungen-Muskel. Als sie schließlich die Halswirbelsäule freigelegt hatte, sah sie, dass die durch den Tod durch Erhängen verursachte Verletzung immer noch sichtbar war.
»Dr. Fauchet, darf ich eine Frage stellen?«
Sie drehte sich um. Das war der Blasse, der, glaubte sie, Pendergast hieß. Sie war drauf und dran, noch einmal auf ihre Regeln zu verweisen, aber irgendetwas in seinem Blick – sanft und bittend – ließ sie zögern. »Ja?«
»Erkennen Sie irgendwelche Hinweise darauf, dass die Tote vor dem Erhängen stranguliert wurde?«
»Nein.«
»Gar keine? Nach dem, was ich gesehen habe, weist der Hals erhebliche Abschürfungen auf.«
»Laut dem rechtsmedizinischen Gutachten handelt es sich um das, was wir unvollendetes Erhängen nennen – ein Erhängen, bei dem kein langer Fall involviert ist. Typisch für einen Suizid. Die Schürfwunden und die Verletzungen, die Sie hier … und hier sehen –«, sie zeigte mit dem Skalpell auf die Stellen, »– wurden von der Toten selbst verursacht, als sie während des Zeitraums des Erstickens um sich schlug. Es findet sich keine traumatische Spondylolisthesie von C2, soll heißen, eine Fraktur der Wirbelsäule zwischen dem ersten und zweiten Halswirbel, weil der Sturz nicht tief genug war. Aus denselben Gründen erkenne ich keine gravierenden Würgemale. Nochmals: Das alles stimmt mit der Diagnose suizidales Erhängen überein.«
»Vielen Dank.«
Sie drehte sich um und wollte mit ihrer Arbeit fortfahren, als ein Sensor piepte und die Tür von ihrem Chef aufgestoßen wurde.
»Ah, Charlotte, wie ich sehe, sind Sie ja schon weit gediehen!«, sagte der Leiter der forensischen Pathologie mit lauter Stimme und betrat mit langen Schritten den Raum. Der Duft von Old Spice wehte durch den Raum. »Das ist Charlotte«, fügte er herablassend gegenüber dem leitenden Bundespolizisten hinzu. »Unsere erste afroamerikanische Rechtsmedizinerin. Eine Spitzenkraft.« Er drehte sich wieder ihr zu. »Darf ich mal?«