»Nur zu, Sir«, sagte Fauchet bemüht ausdruckslos.
Damit hätte sie rechnen müssen. Natürlich, der Chef war komplett angezogen für die Obduktion, bereit loszulegen, und so fing er auch sofort an. Er drängte sie von der Leiche weg, nahm sich ein Skalpell und begann, hier und da herumzustochern, zu piksen und zu schneiden. Gleichzeitig gab er missbilligende Laute von sich – in erster Linie, ob ihm das bewusst war oder nicht, in Bezug auf die hastig durchgeführte Obduktion aus dem Jahr 2007.
»Die Präparation der Halsschlagader hätte diagonal erfolgen müssen«, befand er. Damit hatte er natürlich unrecht – diese Technik war zwanzig Jahre alt –, doch Fauchet hatte gelernt, dem Chef niemals zu widersprechen, solange der Rekorder lief.
Er stocherte weiter in der Leiche und schnippelte im Halsbereich herum, den sie bereits zur Hälfte präpariert hatte. Erschrocken erkannte sie, wie er mit seinem Skalpell ihre Arbeit verpfuschte. »Sie haben vergessen, den ersten Brustwirbel ganz frei zu präparieren«, sagte er. »Lassen Sie mich das mal machen.«
Sie war im Begriff, zu antworten, dass sie gerade dabei gewesen sei, hielt aber lieber wieder den Mund.
Er bearbeitete die Leiche ein paar Minuten lang, während ihm alle dabei zuschauten. »Ich habe vorhin mit dem hier anwesenden ADC Pickett über den Fall gesprochen, und wie mir scheint, gibt es keine Überraschungen. Alles, was ich hier sehe, stimmt mit dem Tod durch Erhängen überein. Stimmen Sie mir da zu, Charlotte?«
»Ja.« Und das war aufrichtig gemeint.
Moberly stocherte noch etwas länger in der Leiche herum, dann richtete er sich auf, blickte sich um und zog den Mundschutz herunter. »Agent Pickett hat mich gewarnt, dass wir mit dieser Sache nur unsere Zeit vergeuden würden, und wie’s aussieht, hat er recht damit.« Er schaute sich um. »Also, Charlotte – sind wir mit der äußeren Besichtigung fertig?«
Sie warf einen kurzen Blick auf den Hals. Ihre Präparation war noch nicht beendet. Moberly hatte allerdings sein Bestes gegeben, die ohnehin schon vermurkste Leiche mit seiner Stickerei endgültig zu ruinieren. »Nur noch ein paar Minuten.«
Zu ihrer Überraschung beugte sich der Bundespolizist mit den silbrigblauen Augen zu ihr vor. »Dr. Fauchet, würden Sie mir den Gefallen tun, das Zungenbein zu untersuchen?«
»Ich habe das meiste davon schon frei präpariert.« Sie trat einen Schritt vor und setzte das Skalpell an, um den Rest mithilfe einer Pinzette freizulegen. »Es ist gebrochen, wenn Sie das wissen wollten.«
»Ist das bei so einem Fall von Erhängen normal?«
»Das hängt davon ab. Beim Erhängen selbst kommt es gewöhnlich nicht zum Bruch des Zungenbeins, aber bei einem unvollständigen Erhängen so wie diesem führt die heftige Gegenwehr der betreffenden Person unter Umständen zu einer derartigen Fraktur.«
»Aber Sie sehen keinen Anlass, die Todesursache infrage zu stellen?«, warf der leitende Agent – dieser Pickett – ein. »Soll heißen, Selbstmord durch Erhängen?«
»Nein.«
Sie sah, dass Pickett Pendergast einen kurzen, giftigen Blick zuwarf. Es tat ihr leid, dass ihr Befund nicht stützte, wonach auch immer er gesucht hatte – er machte doch einen ziemlich freundlichen Eindruck auf sie.
»Nun, also«, sagte Moberly, »vielen Dank, Charlotte, für Ihre Hilfe.« Er machte eine ausgreifende Handbewegung. »Sie können jetzt zum Ende kommen.«
Der Gruppe der Bundespolizisten voran eilte er auf die Tür zu. Unmittelbar bevor er den Raum verließ, blickte dieser Pendergast mit verständnisvoller Miene zu ihr zurück, und wenn sie sich nicht täuschte, hatte er ihr zugezwinkert.
Coldmoon fand keinen Gefallen an Obduktionen, und nach dieser war ihm ein bisschen übel. Er ging hinter Pendergast und Pickett durch die Tür des Krankenhauses nach draußen. Kaum war er an der frischen Luft, atmete er tief durch, um den Geruch nach Formalin und Tod loszuwerden.
Während sie auf ihren Fahrer warteten, wandte sich Pickett Pendergast zu. »Also? Sind Sie zufrieden?«
»Ich bin selten zufrieden.«
»Nun, ich bin es. Moberly ist einer der Top-Rechtsmediziner im Land, und auch seine Assistentin hat auf mich einen recht intelligenten Eindruck gemacht.«
»Ich würde gern nach Ithaca fliegen.«
Pickett sah ihn entgeistert an. »Wie bitte – was haben Sie da gesagt?«
»Der Tod von Elise Baxter datiert auf den siebten November 2006, der Tod von Agatha Flayley auf März 2007. Es liegen also vier Monate dazwischen.«
»Und was wollen Sie damit sagen?«
»Dass die beiden Fälle zeitlich ungewöhnlich nah beieinanderliegen. Außerdem waren beide Frauen in Florida wohnhaft und sind außerhalb des Bundesstaates zu Tode gekommen.«
»Das ist Zufall. Sie sind doch schon lange genug dabei, um zu wissen, dass Kriminalfälle wie diese bedeutungslose Zufälle hervorbringen. Agent Pendergast, es ist glasklar, dass beide Frauen Selbstmord begangen haben. Das ist die Verbindung. Unser Mann ist krankhaft fixiert auf Selbstmorde. Sehen Sie sich doch an, wie er mit ihnen mitfühlt. Außerdem kannten sich die Frauen nicht. Ein Kurzbesuch in Ithaca wird keinerlei Licht auf irgendetwas Relevantes werfen.«
»Trotzdem würde ich gern dort hinfliegen.«
Coldmoon hörte sich das Ganze mit ausdrucksloser Miene an. Er musste Pickett beipflichten. Es war Zeitverschwendung, nach Ithaca zu fliegen, außerdem hatte er keine Lust, sich noch einmal so weit aus dem Fenster zu lehnen, nachdem sie sich schon beim letzten Mal die Finger verbrannt hatten.
»Ich kann meine Ermittlungen an einem Tag zu Ende bringen«, fuhr Pendergast fort. »Hinfliegen und am selben Tag zurückkehren.«
Pickett zögerte, schien über den Vorschlag nachzudenken. Dann schüttelte er ungläubig den Kopf. »Also gut. Wenn Ihnen so sehr daran gelegen ist, bitte. Aber keine Übernachtung – wenn Brokenhearts erneut zuschlägt, müssen Sie hier vor Ort sein. Aber bevor Sie fliegen, möchte ich, dass Sie in der Rechtsmedizin vorbeischauen, um festzustellen, ob die dort irgendetwas Relevantes herausgefunden haben.«
»Vielen Dank, Sir.«
»Agent Coldmoon, Sie werden Pendergast selbstverständlich nach Ithaca begleiten.«
»Ja, Sir.« Im Stillen gab sich Coldmoon einem längeren, höchst bildhaften Fluch der Lakota hin.
Picketts Dienstwagen traf ein; er stieg ein. »Ich fliege zurück nach New York. Es sollte sich von selbst verstehen, dass ich keinerlei Lust verspüre, noch einmal hierher runterfliegen zu müssen.«
Und damit schlug er wortlos die Tür zu, und der Wagen fuhr mit hoher Geschwindigkeit davon.
18
Sie schritten über den eisglatten Gehweg der East Avenue, vorbei an abweisend wirkenden Verwaltungsgebäuden, und eilten weiter Richtung Thurston Avenue Bridge. Zwar war es im Staat New York nicht so kalt wie in Maine einige Tage zuvor, aber an den Straßenkreuzungen und den Rändern von Parkplätzen waren immer noch Berge von geräumtem Schnee zu sehen. Pendergast war wieder dick in seinen Snow-Mantra-Mantel eingemummelt, Coldmoon trug seine alte Daunenjacke offen. Er verlagerte das Gewicht des Rucksacks, den er über der rechten Schulter trug. Selbst für einen kalten Tag Ende März war auf den Straßen ziemlich wenig los – offenbar waren Frühjahrsferien. Jahre zuvor hatte sich Coldmoon ein paarmal in der Stadt aufgehalten. Bis auf den Starbucks an der nächsten Straßenecke schien sie sich nicht verändert zu haben. Grau und deprimierend, wartete sie auf den Frühling.
Sie gelangten an die Kreuzung und blieben kurz neben dem Flaggenmann eines Straßenarbeitertrupps stehen, der gerade einen Wasserrohrbruch reparierte. Coldmoon nutzte die Pause, um aus seinem Rucksack eine verbeulte Thermoskanne mit rot-schwarzem Schottenmuster hervorzuholen, den Deckel abzuschrauben, der zugleich als Becher diente, und etwas von seinem Camp-Coffee hineinzugießen. Zu den schöneren Dingen im Leben eines Bundespolizisten gehörte, dass man sich nicht mit dem Transportsicherheits-Quatsch abgeben musste – sie konnten an den Luftsicherheitsstationen von Flughäfen ihre Ausweise vorzeigen, mit den Piloten und dem Flugbegleitungspersonal an Bord gehen und im Handgepäck alles mitnehmen, was sie wollten.