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Als das köstliche Aroma des verbrannten Kaffees aus der Thermoskanne aufstieg, drehten sich Coldmoons beiden Begleiter zu ihm um. Marv Solomon, ein Sicherheitsbeauftragter der Cornell University, reagierte erstaunt. Pendergast kannte den Geruch schon und verlieh seiner Missbilligung Ausdruck. Coldmoon ignorierte die beiden und trank in aller Ruhe einige Schlucke des lauwarmen Gebräus. Er hatte sich längst an derartige Reaktionen gewöhnt.

Wie’s aussah, würden sie noch ein paar Minuten lang an der Kreuzung aufgehalten werden. »Einen Augenblick, bitte«, sagte Pendergast und verschwand im nahe gelegenen Starbucks. Kurz darauf kehrte er mit einem Pappbecher mit weißem Plastikdeckel zurück und reichte ihn Coldmoon.

Coldmoon ergriff den Becher mit der freien Hand, betrachtete ihn etwas genauer und drehte ihn.

»Espresso doppio«, erklärte Pendergast. »Zwei Espressi, französische Röstung, frisch gemahlen. Ist zwar nicht ganz so gut wie Caffe Reggio, aber durchaus angemessen für einen kultivierten Kaffeegenuss.« Coldmoon hörte eine ganz kleine Betonung des Wortes kultivierten heraus.

Jetzt hatte er beide Hände voll. Wieder trank er einen Schluck aus seinem Thermosbecher.

»Probieren Sie doch einmal den anderen«, drängte ihn Pendergast freundlich.

Er probierte vorsichtig den Kaffee, den Pendergast ihm ausgegeben hatte. Er hatte noch nie einen Starbucks-Kaffee getrunken – der war ihm einfach zu teuer. Rasch nahm er noch einen Schluck von seinem Lager-Kaffee hinterher, um den Geschmack des Espressos aus dem Mund zu bekommen. Dann goss er den Starbucks-Kaffee in einen Schneehaufen in der Nähe, warf den leeren Becher in einen Abfalleimer und sagte: »Ist mir zu kultiviert.«

Der Flaggenmann winkte sie durch, und sie gingen weiter hügelabwärts. Jetzt sahen sie direkt vor sich die Brücke. Nicht besonders beeindruckend – lediglich zwei grüne Stahlbögen, die sich sanft gen Himmel erhoben, eine zweispurige Straße dazwischen, die über die Fall-Creek-Schlucht führte und in die schneebedeckte Landschaft dahinter entschwand. Coldmoon hörte ein leises Rauschen, es klang fast wie Wind.

»Da wäre sie«, sagte Solomon, der Sicherheitsbeauftragte, und deutete voll Stolz auf die Brücke – so, als ob er sie selber erbaut hätte.

Noch einmal blieben sie stehen, und Coldmoon sah den Mann an. Er fand es interessant, dass Pendergast gebeten hatte, sich alles von diesem Sicherheitsbeauftragten der Cornell und nicht von einem der lokalen Cops zeigen zu lassen. Vielleicht hatte ihn der Empfang in Katahdin nicht besonders beeindruckt. Möglicherweise war der Grund aber auch, dass Solomon seit fast fünfundzwanzig Jahren für die Universität arbeitete und drei Brücken-Selbstmorde aus nächster Nähe miterlebt hatte. Wie auch immer, sie hatten sich von der Polizei in Ithaca die Fallakten ja bereits besorgt. Und die befanden sich jetzt, zusammen mit der Thermoskanne, in seinem Rucksack, bereit, auf dem Rückflug nach Hause durchgelesen zu werden.

Coldmoon sah auf die Uhr. Halb eins. Wenn sie am Abend den Flieger zurück nach Miami erwischen wollten, sollten sie sich lieber beeilen. Obwohl sie den frühesten Flug von Miami nach Syracuse genommen hatten, hatte es beinahe vier Stunden gedauert, bis sie angekommen waren. Außerdem hatte Coldmoon darum gebeten, auf dem Weg zurück zum Flughafen einen einstündigen Abstecher zu machen, damit er sich um eine persönliche Angelegenheit kümmern konnte, und das begrenzte ihre Zeit noch weiter.

»Sehen wir uns die Brücke mal an«, sagte er.

Sie überquerten die Straße, Solomon vorneweg, und gingen noch einmal hundert Meter bis zum Gehweg, der an der Ostseite der Brücke verlief. Tief unter ihnen lag die Fall Creek Gorge, ihre Vorsprünge und Aufschichtungen überzogen von langen, bedrohlich wirkenden Eiszapfen. Der Boden der Felsschlucht war mit flachen Felsbrocken übersät, da und dort waren vom Wasser geformte Hünensteine zu sehen. Stromaufwärts waren die Wasserfälle zwar halb gefroren, aber aus dem mittleren Durchfluss spritzten trotzdem grau-schwarze Katarakte und verwandelten das leise Rauschen, das Coldmoon vorhin gehört hatte, in lautes Brausen. Aus dieser Entfernung betrachtet, wurde deutlich, dass sich rechts und links der Brückenpfeiler ein schmiedeeiserner Gitterzaun im selben Grün befand. Dahinter sah man kräftige Netze, aufwendig angebracht, um den eventuellen Sturz eines Menschen aufzufangen.

»Genau hier ist es passiert«, sagte Solomon, zog die Hose hoch und deutete geradeaus. »Ich hatte in jener Nacht meine Runde gemacht und war zufällig ganz in der Nähe, als der Anruf hereinkam. Ich war in zwei Minuten vor Ort, noch vor den Cops. Ich habe natürlich nichts angerührt. Es war zu spät. Ich wusste, ich konnte nichts mehr tun, um die Frau zu retten.«

Pendergast zog aus seinem Parka eine dünne Mappe hervor, die er aus dem Stapel mit den Fallakten der Polizei in Ithaca mitgenommen hatte. »Wie ich lese, haben zwei Studenten die Frau gefunden. Waren die noch hier, als Sie eintrafen?«

Solomon nickte. »Ja, beide, sie hockten auf dem Boden. Fassungslos. Was ihnen wohl kaum jemand übel nehmen kann.« Er hielt inne. »Es war ein lauer Abend – für März. Wirklich angenehm. Außerdem war es kurz vor Neumond.«

»Sie haben ein gutes Gedächtnis«, sagte Coldmoon.

»Ich werde diese Nacht wohl nie vergessen. Nicht vergessen, wie sie gestorben ist.« Solomon blickte sich bedeutungsvoll um. »Die Brücke ist ziemlich berühmt wegen der sogenannten Cornell-Schlucht-Selbstmorde. Bevor man das Netz angebracht hat, sind mehr als ein Dutzend Menschen – darunter viele Studenten und Studentinnen – in die Schlucht gesprungen. Flayley ist meines Wissens die einzige Person, die sich erhängt hat, statt zu springen.«

»An was können Sie sich sonst noch erinnern?«, fragte Pendergast.

»Sie hat ein gelbes Polypropylenseil benutzt. Sie wissen schon, diese Taue, die man auf Booten verwendet. Sind echt reißfest für ihr Gewicht und ihren Umfang. Das eine Ende hat sie am Geländer festgebunden, hier –« Er zeigte auf die Stelle. »Das Fangnetz war damals natürlich noch nicht vorhanden. Es wurde erst ein paar Jahre später angebracht.«

Pendergast schlug die Aktenmappe auf und blätterte kurz darin. »Ein recht gewöhnliches Seil, wie ich sehe. Erhältlich in den meisten Bundesstaaten.« Er hob den Kopf und sah Solomon an. »War die Frau tot, als Sie eintrafen?«

Solomon zögerte. »Tja, das ist schwer zu sagen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie war … na ja, ich habe gesehen, dass sie einige Sekunden lang gezappelt hat. Die Beine hauptsächlich. Ich glaube nicht, dass sie noch am Leben war, es war nur …« Kurz verstummte er erneut. »Die Studenten, die den Notruf getätigt haben, haben gesagt, dass sie sich noch gewehrt hat, als sie ankamen. Die waren derart durch den Wind, dass sie nichts unternommen haben. Die Frau hatte das Seil wohl nicht lang genug gemacht, um sich das Genick zu brechen … die arme Frau. Was für eine Art zu sterben.«

»Niemand hat gesehen, wie sie sich der Brücke genähert hat beziehungsweise heruntergesprungen ist?«

»Nein, Sir. Wie gesagt, es war eine dunkle Nacht. Ruhig. Wenig Verkehr so spät.«

»Wie spät?«

»Zehn nach zwölf.«

Pendergast las wieder in der Mappe. Warum stellte er – fragte sich Coldmoon – diese Fragen? Die meisten, wenn nicht alle, Antworten standen doch in der Akte. Fast kam es ihm so vor, als müsste Pendergast irgendetwas von den Augenzeugen beziehungsweise dem Tatort selbst in sich aufnehmen – so, als ob er darauf wartete, dass die Umgebung ihm ihre Geheimnisse zuflüsterte.

»Zudem wurde festgestellt, dass Ms Flayley keine Studierenden der Universität kannte und auch keine Einwohner von Ithaca«, sagte Pendergast, ohne den Kopf zu heben.

»Sie kannte hier niemanden. War nur für eine Nacht in der Stadt. Am Nachmittag hatte sie an der Cornell ein Bewerbungsgespräch.«