Und zwar ein unverbindliches, wie Coldmoon wusste. Ein Ausdruck von Interesse seitens der Universität, aber kein definitives Stellenangebot. Jedenfalls hatte Pickett das gesagt, und die Personalabteilung der Cornell hatte es bestätigt. Agatha Flayley, einunddreißig zum Zeitpunkt ihres Selbstmords, Eltern längst verstorben, keine Geschwister oder echte Freunde. Wohnsitz: Miami. Ort und Art der Beschäftigung: Mercy Miami Hospital im Sozialdienst. Interessiert an einer Stelle als Patientenanwältin im Gesundheitsressort der Cornell. Wer zum Teufel zieht freiwillig von Miami in den Staat New York? Auch Felice Montera, die erste Frau, der das Herz auf derart brutale Art aus dem Brustkorb gehackt worden war, hatte im Gesundheitsbereich gearbeitet, erinnerte sich Coldmoon – als Krankenschwester im Mount Sinai. Eine Verbindung?
Während Coldmoon über diese Frage nachgrübelte, war Pendergast, Hände in den Taschen, allein über die Brücke gegangen. Plötzlich blieb er am anderen Ende stehen und sah sich um. Wieder hatte Coldmoon die seltsame Vorstellung, dass Pendergast auf irgendetwas wartete. Er schüttelte den Gedanken ab. Egal, was es war, es war nicht merkwürdiger, als mehrere Stunden lang reglos auf einem Hotelbett in Maine zu liegen. Das exzentrische Verhalten des Agenten, dieser ominöse »Pendergast-Nimbus«, vor dem Pickett ihn gewarnt hatte, ließ Coldmoon völlig kalt.
Solomon, der Sicherheitsbeauftragte, sagte irgendetwas, Coldmoon hörte zu, realisierte, dass Solomon davon sprach, dass Schneefall vorhergesagt worden war, und hörte wieder weg. Inzwischen war Pendergast zurückgekommen. Den Bruchteil einer Sekunde lang blickte er noch einmal zur Brücke. Coldmoon war sich sicher, gehört zu haben, dass Pendergast tief Luft holte. Als er sich dann wieder umdrehte, war seine Miene so unergründlich wie immer, und der Augenblick – was immer er bedeutete – war vorüber.
Pendergast nickte dem Sicherheitsbeauftragten zu und sagte: »Vielen Dank, Mr Solomon.« Er steckte die schmale Aktenmappe in seinen Parka zurück. »Ich glaube nicht, dass wir Ihre Zeit noch länger in Anspruch nehmen müssen.«
Auf der Rückfahrt zum Flughafen in Syracuse machte Coldmoon – er hatte darum gebeten – einen Abstecher aus persönlichen Gründen. Sein Ziel war das Bundesgefängnis in Jamesville im Staat New York. Er hielt den Besuch kurz – ungefähr eine halbe Stunde –, weshalb die Verzögerung insgesamt nicht länger als eine Stunde betrug. Als sie am Flughafen ankamen, blieb ihnen noch etwas Zeit bis zum Abflug nach Miami. Nach dem überfüllten und lärmigen Hinflug am Vormittag bestand Pendergast darauf, dass sie für den Rückflug in die erste Klasse umbuchten, und zwar auf seine Kosten. Coldmoon war zu müde und kaputt, um Einwände dagegen zu erheben.
Coldmoon war noch nie erster Klasse geflogen – außer einmal als Sky-Marshal, und nach einer ersten Zeit der Verunsicherung fing er an, die größere Beinfreiheit, den aufmerksamen Service, das Gratis-Essen zu genießen. Besonders gefiel ihm der Flugbegleiter, der seinen Dewar’s on the rocks zweimal nachgefüllt und dafür nicht mehr verlangt hatte als ein Dankeschön.
Er sah zu Pendergast, der schon wieder unruhig in einer der Ermittlungsakten blätterte. Pendergast hatte auf der Rückfahrt kaum ein Wort gesprochen, lediglich einen Anruf entgegengenommen, in dem Sandoval sie darüber informierte, dass es in Miami zu viele Friedhöfe gebe, um alle wirkungsvoll überwachen zu können. Pendergast war aber ausnehmend höflich geblieben. Während Coldmoon am dritten Scotch nippte, durchströmte ihn das Gefühl einer gewissen untypischen Großherzigkeit. Pendergast hatte kein Theater gemacht, was den unerklärten Zwischenstopp im Knast betraf; er hatte nicht einmal danach gefragt. Auch hatte er sich um eine freundschaftliche Geste bemüht, als er ihm einen Espresso ausgab. Den in den Schnee zu schütten, das war bei genauerem Nachdenken ziemlich schäbig gewesen.
»Sie haben mich gar nicht danach gefragt, warum ich in Jamesville einen Zwischenstopp einlegen wollte«, sagte Coldmoon.
Pendergast sah herüber. »Besuch des Ehepartners?«
»Nein. Der Besuch hat etwas damit zu tun, warum ich FBI-Agent geworden bin.«
Pendergast klappte die Aktenmappe zu.
»Ich bin in einem Reservat in Süd-Dakota aufgewachsen. Ich war elf, da wurde mein Vater während einer Kneipenprügelei ermordet. Meine Mutter und ich waren uns fast sicher, wer’s gewesen war. Aber der Mörder hat mit der Stammespolizei unter einer Decke gesteckt. Es gab keine Ermittlungen. Wir hatten niemanden, an den wir uns hätten wenden können – die lokale Polizeibehörde und die des Bundesstaates waren nicht zuständig. Die Bundespolizei schon, aber dort hat man sich für den Fall nicht interessiert. Für die war das nur eine Schlägerei zwischen zwei besoffenen Indianern. Also hat man den Fall ad acta gelegt. Eine Zeit lang habe ich nicht gewusst, welchen Berufsweg ich einschlagen soll, aber dann bin ich aufs College gegangen, und nach einem lustlosen Start hat es plötzlich Klick gemacht. Ich habe mir den Arsch abgearbeitet, um den Abschluss zu schaffen. Sobald ich die Academy verlassen hatte, habe ich dafür gesorgt, dass ich in die Außenstelle in Aberdeen versetzt werde. Ich habe im Mordfall meines Vaters ermittelt und alle Beweise gefunden, die nötig waren, um den Mörder zu verurteilen. Das war mein erster Fall.«
Es folgte ein kurzes Schweigen. Coldmoon trank einen kleinen Schluck vom Dewar’s.
»Demnach sind Sie zum FBI gegangen, weil Sie sich rächen wollten.«
»Nein. Ich wollte dabei helfen, sicherzustellen, dass diese Art von Ungerechtigkeit nicht noch einmal vorkommt.«
»Verstehe.« Pendergast hielt kurz inne. »Und der Täter ist derzeit in Jamesville untergebracht?«
»Ich besuche ihn gern, wenn ich in der Gegend bin.«
»Natürlich. Eine Art Wiedersehenstreffen.« Pendergast nickte. »Übrigens, zu welchem Ratsfeuer gehören Sie eigentlich?«
»Wie bitte?«
»Die sieben Ratsfeuer der Lakota.«
»Ach so. Teton. Oglala.«
»Trotzdem haben Sie blassgrüne Augen.«
»Meine Mutter ist Italienerin.«
»Tatsächlich? Ich habe viel Zeit in Italien verbracht. Wie heißt sie denn mit Mädchennamen?«
»Das spielt keine Rolle.« Zwar liebte Coldmoon seine Mutter, fand aber, dass sie seine ansonsten reine Sioux-Blutlinie verunreinigt habe. Er hatte ihren Nachnamen als Mittelnamen übernommen, ihn jedoch niemandem verraten – selbst bei seiner Bewerbung beim FBI hatte er ihn als bloßes Initial angegeben.
»Entschuldigen Sie, dass ich danach gefragt habe. Wie auch immer, ich hoffe, dass Ihr, ähm, Besuch ein Erfolg war.« Und damit widmete sich Pendergast wieder seiner Lektüre.
Coldmoon betrachtete den Agenten mit heimlicher Belustigung. Es schien, als fände er Gefallen an der grimmigen höheren Gerechtigkeit, die in dieser Situation lag.
Wenigstens in einer Sache stimmten sie überein.
19
Roger Smithback trank seine Flasche Porter aus und stellte sie auf dem zerkratzten Holztisch ab. Augenblicke später eilte die Barkellnerin – blond, um die vierzig, Spandex-Shorts, die sie über dem Badeanzug trug – herbei. »Noch eins, Schätzchen?«
»Na klar, ja.«
Sie zog den Bestellblock aus einer der Taschen ihrer Shorts. »Und? Wisst ihr schon, was ihr essen wollt?«
»Ich nehme ein Grouper-Sandwich«, sagte Smithback. »Extra Banana Peppers, bitte.«
Sie drehte sich zu Smithbacks Begleiter.
»Das Übliche«, sagte er. Die Kellnerin lächelte, notierte sich die Bestellung auf ihrem Block und drehte sich um.
Smithback schaute über den Tisch. Der Mann, der seinen Blick mürrisch erwiderte, war in fast jeder Hinsicht gewöhnlich: durchschnittlich groß, sonnengebräunt, mausbraunes Haar, dazu ein Zwei-Tage-Bart, bekleidet mit einem Ron-Jon-T-Shirt und weiten Bermudashorts. Eines der Outfits, die verdeckte Ermittler in Miami favorisierten – mühelos zu identifizieren, wenn man wusste, wonach man suchte.