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Und Roger Smithback wusste, wonach er suchte. Inzwischen beackerte er die Stadt seit sechs Jahren und hatte sich vom kleinen, unbedeutenden Rechercheur beim Miami Herald zum vollwertigen Reporter hochgearbeitet. Und Casey Morse war, mehr oder weniger, zusammen mit ihm aufgestiegen. Sie hatten sich während Smithbacks zweiter Woche beim Herald kennengelernt. Damals war Morse ein junger Streifenpolizist gewesen, der gerade erst angefangen hatte in Little Haiti. Er hatte die Bürgersteige abgeklappert, zwei Jahre im Drogendezernat gearbeitet und war jetzt Sergeant bei der Sitte im Bezirk Mitte. Und Smithback hatte ihm für die ganze Nummer einmal pro Woche einen Cheeseburger ausgegeben – durch, gebratene Zwiebelringe, kein Salat.

Die Kellnerin stellte die nächste Flasche Morning Wood auf den Tisch. Smithback griff danach und nahm einen ordentlichen Schluck. Die starken Aromen nach Kaffee, Ahorn und – ja, da war es – Speck, die über seine Geschmacksknospen spülten, empfand er als belebend und tröstend. Das Bier wurde etwas weiter oben an der Küste gebraut, von Funky Buddha, und war normalerweise nur saisonal erhältlich. Aber die Sunset Tavern hatte immer einen Vorrat davon auf Lager. Das war der Hauptgrund, weshalb Smithback den Laden frequentierte – das und weil es eine typische Cop-Kneipe war, in der Morse, wie er wusste, runterkommen und sich entspannen konnte.

Sie quatschten eine Weile über die üblichen Themen – die deprimierenden Aussichten der Marlins für die kommende Saison, der neue Zika-Ausbruch in Liberty City, das tyrannische Verhalten von Morse’ neuem Lieutenant. Morse war ein ziemlich anständiger Cop, schien aber niemals mit seinen unmittelbaren Vorgesetzten auszukommen. Sagte das nun mehr über die Chefs, überlegte Smithback, oder über Morse?

Smithback ließ den Small Talk weiter über sich ergehen. Hin und wieder spielte er achtlos mit seinem Kreissägenhut, bis ihr Essen kam. Er machte das nun schon lange, hatte es fast bis auf jeden einzelnen Tanzschritt choreografiert. Dabei war es im Grunde nicht so, dass er Morse oder dessen einen Cop-Freund beziehungsweise seine beiden anderen Cop-Freunde manipulierte – es war eher ein Geben und Nehmen, von dem beide Seiten profitierten. Polizisten fanden es nie gut, wenn man sie für Pressespitzel hielt, außer natürlich, es nützte ihnen ganz unmittelbar – doch sie waren so klatschsüchtig wie alle anderen. Wenn einer von denen glaubte, dass man bereits irgendetwas wusste, dann blieb er beim Thema … so lange, bis er sich einreden konnte, dass er nicht der Erste war, der irgendwelche schmutzigen Geschichten ausplauderte. Aber natürlich waren sie so neugierig wie alle anderen. Wenn man also als Reporter hier und da eine interessante Information aufgeschnappt hatte … na, dann konnte man feilschen. Das war auch einer der Gründe, weshalb Smithback öfter in Viertel wie diese ging, denn hier konnte er Tipps aufschnappen, die einen Sergeant von der Sitte interessieren könnten.

Smithback wusste selbst, dass sein Arbeitsstil eher unauffällig war. Dabei hatte er viele Reporter gekannt, die nur für die großen Storys lebten. Sein älterer Bruder Bill war so einer gewesen – immer auf der Suche nach einem Ansatz für eine Recherche, die Antennen immer ausgefahren, er hatte die Leute genervt, sich wie der Elefant im Porzellanladen verhalten, der fast alles getan hätte, um eine Story mehr als die anderen zu kriegen. Dabei war es nicht so, dass er ein böser Junge war – Bill war ein toller Bruder gewesen, mit riesengroßem Herzen, und er fehlte Roger, der Bills frühzeitigen Tod jeden Tag betrauerte –, es war nur einfach so, dass ihre Arbeitsstile so unterschiedlich waren wie ihre Persönlichkeiten. Bill hatte Jazz und Gedichte und Damon Runyon geliebt, er, Roger, Mathematik, Marvel-Comics und klassischer Musik den Vorzug gegeben.

Auch der Vater war ein Zeitungsmann gewesen, und auf merkwürdige Weise spiegelten sich in Bill und Roger zwei verschiedene Seiten seiner Persönlichkeit. Einerseits war der Vater als Reporter der Schrecken ihres ruhigen Bostoner Vororts gewesen – und er hatte die Storys und lokalen Skandale mit der Entschlossenheit einer tintenbefleckten Harpyie aufgedeckt. Andererseits war seine Denke, sobald er den Beverly Evening Transcript als Chef übernommen hatte, nuancierter und strategischer geworden. Er hatte langfristig geplant, über den nächsten großen Exklusivbericht hinausgeblickt und seine Zeitung und Quellen sorgsam gepflegt. Roger hatte Verständnis für diesen Ansatz. Die Transcript war die erste und letzte Liebe seines Dads gewesen. Und er war sozusagen an Bord gestorben, erlitt einen schweren Herzinfarkt, während er über die Fotosetzmaschine gebeugt dasaß.

Draußen auf der Northwest Eighth dröhnte der Verkehr. Später, wenn die Bordsteinschwalben auf die Straße kamen, würden die Autos langsamer fahren. Morse ließ sich den Burger schmecken, schenkte ihm seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Gut so, sinnierte Smithback. Komisch, dass Cops nach einer Schicht fast ausnahmslos Trostessen bevorzugten – genauso, wie sie am liebsten in Bars mit dem Wort Tavern im Namen gingen.

»Wie geht’s eigentlich mit diesem Commissioner weiter?«, fragte er lässig. Er hatte einen Tipp bekommen, wonach ein gewisser Commissioner aus Miami die Dienste von Escort-Ladys in Anspruch genommen und dafür Geld des Bezirks eingesetzt hatte, und die Info an Morse weitergereicht.

»Sieht gut aus.« Morse leckte sich Ketchup von den Fingern. »Verdammt gut, ehrlich gesagt. Natürlich wird der Scheißlieutenant ein Stück vom Kuchen abhaben wollen, wenn er den Commissioner denn tatsächlich einbuchtet.«

»Ja, die Sache ist echt scheiße.« Smithback schaute zu, wie Morse seinen Gin Tonic austrank und der Kellnerin winkte, sie solle ihm noch einen bringen. »Klingt, als wär’s meine Lebensgeschichte.«

»Ach ja? Dieser Chefredakteur – wie heißt der noch gleich, Kraski –, schikaniert der Sie eigentlich immer noch?«

»Dauernd.« Das war zwar etwas übertrieben, aber es konnte nie schaden, eine Verbindung unter Brüdern herzustellen, indem man auf gemeinsame Leiden anspielte.

»Wäre schön, ich könnte Ihnen im Gegenzug auch einen Knochen hinwerfen«, sagte Morse. »Ist aber alles ziemlich ruhig momentan. Bis natürlich auf diese beiden Morde.«

»Ja, klar.« Smithback trank noch einen Schluck von seinem Bier. Er war hier mit einem kleinen Dilemma konfrontiert. Es stimmte schon, für gewöhnlich schrieb er nicht über Tötungsdelikte – und Morse wusste das. Andererseits waren die beiden Herald-Reporter, die normalerweise für sich allein beanspruchten, über Mordfälle zu berichten, derzeit in Urlaub. Sein Vater war immer darauf herumgeritten, wie wichtig Intuition sei. »Vertrau deinem Bauchgefühl«, hatte er immer gerne gesagt, und obwohl die Cops ungewöhnlich schmallippig waren, was die jüngsten Morde in Miami Beach betraf, war doch offensichtlich, dass es da einen Zusammenhang gab. Beide Opfer waren Frauen, denen man den Brustkorb mit »einem schweren Instrument mit Klinge« aufgehackt hatte. Mehr sagten die Cops nicht, aber vor zwei Tagen war er zufällig im richtigen Viertel gewesen, als die Hälfte der Strafverfolger von South Beach plötzlich von einem Tatort abhauten und zum Friedhof der Stadt Miami rasten. Es war ein offenes Geheimnis, dass es erst vor ein paar Tagen auf einem anderen Friedhof einen gigantischen Einsatz gegeben hatte. Er hatte das Ohr auf dem Boden behalten und Gerüchte gehört, wonach man ein menschliches Körperorgan – angeblich ein Herz – gefunden hatte. Da musste man kein Raketenwissenschaftler sein, um die Puzzleteile zusammenzusetzen. Und Smithbacks Bauchgefühl sagte ihm, dass er den Urlaub seiner Kollegen nutzen sollte, ehe irgendein freier Mitarbeiter das tat.

Er wollte die Story unbedingt bringen. Zugleich aber wollte er Morse nicht verprellen, ihn nicht als Informanten verlieren. Und deshalb würde er den Sergeant mit einem Häppchen Information überraschen, das nicht nur lecker war, sondern auch andeutete, dass er mehr als sonst wusste – in der Spieltheorie nannte man so was das »Ultimatumspiel«. Und wenn er das richtig spielte, würde er womöglich etwas Neues erfahren.