»Jaja … die Morde. Irgendwer bei der Polizei geht da bestimmt an die Decke.« Er trank sein Morning Wood aus. »Warum sonst hätte man das FBI hinzugezogen?«
Morse sah ihn überrascht und misstrauisch an. »Sie wissen davon?«
Smithback zuckte mit den Schultern – so, als ob das nicht wichtig wäre. Er war ja kein Reporter, der über Morde berichtete. »Natürlich. Sonst wäre Pendergast ja nicht hier unten.«
»Pendergast?«
»Jupp. Special Agent Pendergast und ich kennen uns schon lange.« Das war die kleine Information, und partiell stimmte sie sogar. Sein Bruder hatte häufig von Pendergast gesprochen, und zwar in einem Ton, der zwischen Frust, Bewunderung und Furcht wechselte. Roger hatte den Agenten sogar ein paarmal getroffen. Das erste Mal bei Bills Hochzeit, und dann noch einmal, als Bill ermordet wurde und Pendergast in dem Fall ermittelte. Das letzte Mal hatte er den FBI-Agenten auf Bills Beerdigung gesehen. Als er also den hageren, schwarz gekleideten Mann vor zwei Tagen auf dem städtischen Friedhof erblickt hatte, war das nicht nur eine Riesenüberraschung gewesen, sondern hatte auch seinen eigenen Verdacht bestätigt – ein Serienmord. Der Agent hatte seine diesbezüglichen Fragen zwar nicht beantwortet, aber das musste er auch gar nicht.
Das Misstrauen wich aus Morse’ Gesichtsausdruck, aber die Überraschung blieb. »Hat dieser Pendergast Ihnen eigentlich viel erzählt?«
Smithback hatte richtig geraten: Der Sergeant war fast genauso neugierig auf den Fall wie er. Aber er musste mit Umsicht vorgehen. Vertrau deinem Bauchgefühl. »Nicht allzu viel. Nur von diesem krassen Scheiß auf den Friedhöfen.«
Zu seiner Erleichterung nickte Morse. »Krass ist das falsche Wort«, sagte der Cop, als der nächste G&T vor ihm abgestellt wurde. »Die Briefe stammen definitiv von einem Psycho. Ich meine, wer gibt sich denn einen derart beschissenen Namen?«
Verdammt. Zeit zu improvisieren. »Jaa«, sagte Smithback und blieb dabei, seine Nummer lässig durchzuziehen. »Als ich davon gehört habe, hab ich auch gedacht, der Typ würde, Sie wissen schon, einen verarschen. Wie Jack the Ripper oder so.«
Morse schnaubte verächtlich. »Jack the Ripper hatte wenigstens Eier in der Hose. Aber Mister Brokenhearts? Wie abgefuckt ist das denn?«
»Echt abgefuckt.« Und dann senkte Smithback so rasch, wie er sich traute, den Blick, griff nach seinem Sandwich und biss davon ab, um sich sein Triumphgefühl nicht anmerken zu lassen. Nicht nur, dass er da eben ein paar böse Ahnungen bestätigt bekommen und einen Volltreffer gelandet hatte – nämlich dass der Mörder sich Mister Brokenhearts nannte –, er hatte auch nicht alle Brücken hinter sich abgebrochen. Morse würde glauben, dass Pendergast ihm die Informationen zugesteckt hatte.
Er hatte gelogen, aber nur, um hinter die Wahrheit zu kommen. Außerdem hatte er auf subtile Weise gelogen, erfolgreich die richtige Strategie im »Ultimatumspiel« angewandt. Sein Dad – und zwar mit seinen beiden Seiten – wäre stolz auf ihn.
»Und? Wie ist der Burger?«, fragte er den Sergeant, den Mund voll mit einem Bissen von seinem Grouper-Sandwich.
20
Die beiden blutverschmierten Briefe lagen zwischen Glasscheiben auf dem Objektträger eines Stereo-Zoom-Mikroskops unter hellem Licht. Für Agent Coldmoon sahen sie aus wie die Seiten eines seltenen Manuskripts. Der forensische Dokumentenexperte – die FBI-Außenstelle in Miami hatte einen fest angestellten Spezialisten, der nichts anderes tat, als Texte zu analysieren – war ein kleiner, etwa vierzig Jahre alter Mann, kräftig, mit rasiertem Schädel, dem Körper eines Gewichthebers und einem Tattoo am Handgelenk, das so eben unter der Manschette seines Laborkittels hervorschaute. Sein Name war Bruce Ianetti. Trotz des leicht gangsterhaften Aussehens gelang es ihm, das nerdige Gebaren von jemandem an den Tag zu legen, der das Geheimwissen eines Fachgebiets hütete, von dessen Existenz die meisten Menschen nicht einmal etwas ahnten.
Pendergast übernahm die Führung. Und wieder einmal bewunderte Coldmoon – der nach dem eiligen Trip nach Ithaca und wieder zurück noch immer müde und abgespannt war – Pendergasts chamäleonartige Fähigkeit, mit Menschen aus allen Schichten der Bevölkerung klarzukommen, ob nun auf grobe oder freundliche Weise, und vorübergehend verschiedene Masken aufzusetzen, je nachdem, was die jeweilige Situation erforderte.
»War irre schwierig, die beiden Briefe der Polizei Miami abzuluchsen«, sagte Ianetti durchaus prahlerisch, nachdem Pendergast ihn um eine Besichtigungstour seines Labors gebeten und außerordentlich aufmerksam zugehört hatte, als Ianetti unablässig über die ihm zur Verfügung stehenden neuesten technologischen Errungenschaften schwärmte.
»Ich habe verstanden«, sagte Pendergast mit vor Sympathie triefender Stimme. »Ich freue mich sehr, dass die Briefe nun in den Händen von jemandem mit Ihrer Kompetenz sind. Sagen Sie einmal, Dr. Ianetti, was haben Sie alles herausgefunden?«
»Herr Ianetti, bitte, nicht Doktor, aber danke für die Beförderung.« Er lachte. »Wie auch immer, wir haben keine DNA-Spuren, Fingerabdrücke oder irgendwelche Sachbeweise gefunden. Es handelt sich um sehr gutes Papier, hundert Prozent Baumwolle, abgeschnitten mit einer Rasierklinge oder einem Teppichmesser von einem sehr viel größeren Blatt. Gewicht 120g/qm, Leinen-Finish. Ideal zum Schreiben, weich, fast butterweich, mit minimal abgerundeten Kanten. Die chemische Analyse des Papiers und seiner Beschichtung deutet darauf hin, dass es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von der Firma Arches stammt, kalt gepresst, hergestellt in den Vogesen in Frankreich.«
»Höchst interessant«, sagte Pendergast. »Also ein seltenes Papier?«
»Leider nicht. Arches stellt eines der berühmtesten und am weitesten verbreiteten Aquarellpapiere der Welt her. Es zurückzuverfolgen ist aber wohl unmöglich, weil der Schreiber es eindeutig auf eine Weise geschnitten hat, dass das Wasserzeichen und die Ränder nicht vorhanden sind. Der Schreiber ist mit dem Papier mit großer Sorgfalt umgegangen, er hat weder ein Fitzelchen DNA noch irgendeine andere physische Spur hinterlassen.«
»Aber das Papier selbst wurde vor Kurzem angefertigt?«
»In den vergangenen Jahren, würde ich sagen.«
»Verstehe. Und das Schreibgerät und die Tinte?«
»Der Brief wurde mit einem altmodischen Füllfederhalter geschrieben – an dem fast kalligrafischen Effekt der Schriftzüge kann man erkennen, dass das Schreibgerät eine sehr biegsame Edelstahlfeder mit Iridiumspitze hatte, von der Art, die in den 1920er- und 1930er-Jahren weithin hergestellt wurde. Die Spitze ist breit, aber nicht überbreit. Bei der Tinte handelt es sich um Triarylmethyne-Blau, und sie ist natürlich sehr viel jünger als der Füllfederhalter. Höchstwahrscheinlich stammt sie von Quink – qualitativ hochwertig, aber leicht erhältlich. Eigentlich schade angesichts der vielen Tinten, die heute in Schreibwarenläden erhältlich sind, die leichter einzugrenzen wären.«
Wieder Nicken seitens Pendergast.
»Und die Schrift?«, fragte Coldmoon. Schriftanalyse war eines seiner Hobbys.
»Hier wird’s interessant. In der Regel unternimmt der Schreiber im Fall von handgeschriebenen Briefen wie diesen den Versuch, seine Schrift zu verstellen – manchmal, indem er mit der nicht dominanten Hand schreibt, dann wieder, indem er Blockbuchstaben verwendet. Es ist ziemlich leicht, eine echte Handschrift von einer verstellten zu unterscheiden, auf vielen Ebenen. Aber der Schreiber hier hat nicht versucht, seine Schrift zu verstellen. Wie Sie sehen können, ist sie schön, fließend und natürlich, nicht bemüht, angenehm fürs Auge. Was den Charakter der Handschrift selbst angeht –«
Plötzlich klingelte das Telefon auf Ianettis Schreibtisch. Er hob kurz den Finger, um sich zu entschuldigen. Kurz darauf kam er zurück. »Wir haben einen Besucher.« Währenddessen betrat ein Mann in grauem Anzug das Labor.