»Commander Gordon Grove«, sagte der Mann und streckte seine Hand Pendergast entgegen. Er war durchschnittlich groß, hatte nachdenkliche Gesichtszüge, graue Augen und langes graues Haar, das nach hinten gekämmt war. Er hatte einen kleinen Bauch, wie Coldmoon sah, aber der Anzug war so gut geschnitten, dass der Träger das kaschieren konnte. Sollte er bewaffnet sein, kaschierte Grove das ebenfalls. »Und Sie müssen Special Agent Pendergast sein. Angesichts Ihres heutigen Arbeitspensums war ich nicht sicher, ob ich Sie noch so spät hier antreffen würde.«
Pendergast ergriff seine Hand.
Grove drehte sich Coldmoon zu. »Und Agent Coldmoon.« Er umfasste Coldmoons Hand mit festem, kühlem Griff und schüttelte sie auf angenehme Weise. Dann wandte er sich dem Dokumentenexperten zu. »Bruce und ich kennen uns schon seit seiner Zeit bei der Polizei Miami. Er ist der beste forensische Dokumentenspezialist im Land.«
Ianetti errötete bis unter die Haarspitzen. Coldmoon wechselte einen Blick mit Pendergast. Wer war dieser Typ?
»Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an den Zwei-Brücken-Mord vor etwa sechs Jahren erinnern. Ich habe damals noch in leitender Funktion im Morddezernat gearbeitet. Es war Bruce, der den Fall gelöst hat. Er konnte nachweisen, dass die Unterschriftsseite in einem Testament von einer anderen Sorte Papier stammte als das übrige Dokument und das Testament deshalb gefälscht gewesen sein musste.«
»An der Lösung des Falls haben noch andere mitgewirkt«, sagte Ianetti bescheiden.
»Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel«, sagte Grove. »Wie dem auch sei, ich bin hier, weil – um es höflich auszudrücken – die Polizei Miami und die FBI-Außenstelle in Miami eine schwierige Historie verbindet. Manchmal ist ein wenig Druck notwendig, damit die zwei Behörden gut miteinander auskommen. Die beiden entscheidenden Beweismittel hier sind ein perfektes Beispiel dafür.«
»Danke, dass Sie die Briefe so schnell von der Polizei Miami besorgt haben«, sagte Ianetti. Hastig fügte er hinzu: »Sir.«
»Ich helfe gern.« Grove drehte sich zu Pendergast. »ADC Pickett hat die Polizei Miami gebeten, einen Verbindungsbeamten abzustellen. Diese Person bin ich. Vor einigen Jahren ist es zu einem bedauerlichen Missverständnis zwischen einem Polizisten aus Miami und einem FBI-Agenten gekommen, in dessen Folge mir die Aufgabe zufiel, die Wogen zwischen der lokalen und der Bundesbehörde zu glätten. Sie wären überrascht, wie viel Verwaltungsaufwand sich auf diese Art vermeiden lässt. Ich bin hier, um dafür zu sorgen, dass Sie bekommen, was Sie brauchen, wenn Sie es brauchen.«
»Haben Sie vielen Dank«, sagte Pendergast.
»Aber nun genug über mich.« Grove wandte sich dem Dokumentenexperten zu. »Mr Ianetti, ich glaube, Sie wollten uns gerade eben Ihren Befund zu der Handschrift mitteilen.«
Ianetti räusperte sich. »Folgende Frage stellt sich immer wieder: Was lässt sich aus der Schrift über einen Täter erfahren? Ich fürchte, in den vergangenen zwanzig bis dreißig Jahren ist die ›Wissenschaft‹ der Schriftanalyse – die Grafologie – als falsch entlarvt worden.«
»Als falsch entlarvt?« Was er da hörte, machte Coldmoon fassungslos. »Was meinen Sie damit?«
»Dass es sich um eine Pseudowissenschaft handelt. Die Grafologie befindet sich auf dem gleichen Niveau wie die Astrologie, das Handlesen und das Schauen in eine Kristallkugel.«
»Ich bin da anderer Meinung«, sagte Coldmoon. »An dem, wie eine Person schreibt, lässt sich viel über sie ablesen. Eine unordentliche Handschrift bedeutet, der Betreffende ist eine unordentliche Person, eine kühne Unterschrift verweist auf ein großes Ego und so weiter.«
»Diese Idee ist zwar sehr verführerisch«, sagte Ianetti. »Allerdings hat eine Metastudie – also eine Studie mehrerer anderer Untersuchungen – aus dem Jahr 1982 zweifelsfrei nachgewiesen, dass die Grafologie bei der Vorhersage von Charaktereigenschaften gar nichts leistet. Wie sich herausstellte, haben beispielsweise viele ausgesprochen ordentliche Menschen eine unleserliche Handschrift und umgekehrt.« Er hob eine Braue. »Sie glauben doch nicht an Astrologie oder an die Aussagekraft von Kristallkugeln?«
Coldmoon ging darauf gar nicht ein. Was man ihn in der Jugend gelehrt hatte, ging niemanden etwas an. Er warf dem Commander einen kurzen Blick zu, der nickte. »Die meisten Forensik-Labors der örtlichen Polizeibehörden verzichten auf grafologische Gutachten.«
Während des Gesprächs hatte Pendergast weiterhin eine bemüht ausdruckslose Miene aufgesetzt. Coldmoon sah erneut zu seinem Partner, der nachdenklich einen Finger an die Lippen legte, ihn wieder herunternahm und ruhig sagte: »Dennoch können wir aus diesen Briefen eine Menge über die Psychologie des Mörders lernen. Wir haben es hier mit einem ausgesprochen planvoll agierenden Individuum zu tun, das Shakespeare und Eliot zitiert und zum Schreiben gutes Papier und seltene alte Füllfederhalter verwendet, kurzum: einen Mann mit literarischen Ambitionen. Sie weisen darauf hin, dass sich die Suche nach dem Papier beziehungsweise der Tinte als schwierig erweisen dürfte – zumal in diesen Zeiten des Online-Shoppings –, aber Ihre Leute könnten doch einen Blick in Buchklubs, Bibliotheken und andere Orte werfen, in denen sich ein selbst ernannter Literat möglicherweise herumtreibt.«
»Ein ausgezeichneter Vorschlag«, sagte Grove. »Ich werde unsere Leute darauf ansetzen.«
»Wie auch immer«, sagte Ianetti, »mehr kann ich Ihnen nicht sagen – außer dass der Täter mit nahezu hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit Linkshänder ist.«
»In der Tat?« Pendergast hob die Brauen.
»Das ist viel schwerer zu erkennen, als man glaubt. Dieser Autor verwendet jedoch definitiv das, was wir als Sarkasmus-Strich bezeichnen. Auf den handgeschriebenen ts endet der Querstrich mit einer steilen, abfallenden Bewegung von rechts nach links anstatt von links nach rechts.«
Dieses kleine Beispiel großer Gelehrsamkeit wurde mit Schweigen quittiert.
»Morgen früh ist mein Gutachten fertig«, sagte Ianetti. »Ich maile Ihnen eine Kopie.«
»Sie haben uns sehr geholfen«, sagte Pendergast. »Vielen Dank.«
Sie strebten dem Ausgang des Labors zu, Grove begleitete sie. An der Tür angekommen, sah der Commander auf die Uhr, dann drehte er sich ihnen zu. »Herrje, schon halb acht. Ich muss mich sputen, aber ich bin froh, Sie beide noch erwischt zu haben. Ich wollte nur Ihre Bekanntschaft machen und mich vergewissern, dass Sie alles bekommen, was Sie benötigen.« Visitenkarten wurden gezückt und einander in die Hand gedrückt. »Rufen Sie mich an, wenn Sie irgendwelche Probleme haben.«
»Danke vielmals«, sagte Pendergast trocken und steckte die Visitenkarte in eine der Taschen seines schwarzen Anzugs.
Während Grove auf dem Flur davonging, sah Coldmoon auf die Visitenkarte. Darauf stand: Gordon Grove, Commander, Verbindungsbeamter für externe Angelegenheiten, Polizei Miami.
»Verbindungsmann«, sagte Coldmoon halblaut. »Anders ausgedrückt: Der hat seinen Arsch gerettet. Nette Art, sich langsam in den Ruhestand zu verabschieden. Und wenn wir die Sache vergeigen, ist es unsere Schuld. Wenn die sie vergeigen, ist es auch unsere Schuld.«
»Es gibt viele unabdingbare polizeiliche Fähigkeiten, die man auf der Academy nicht lernt«, sagte Pendergast. »Seinen Arsch zu retten, wie Sie es so charmant ausdrücken, ist dabei die wichtigste.«
21
Alle Sinne geschärft, stand er reglos in der feuchten Dunkelheit. Er war sich der leichten Brise bewusst, die nun endlich kühler wurde, während die Dämmerung in die Nacht überging und der Schweiß auf seinem Nacken trocknete. Er war sich auch der verschiedenen Gerüche bewusst, manche deutlich und nahe, andere weiter entfernt: zerdrücktes Gras, gegrilltes Schweinefleisch, Diesel, Salzwasser, Zigarrenrauch. Seine Gedanken konzentrierten sich auf die Fragmente der Laute, die ihn einhüllten: das Tuten einer Schiffssirene, fernes Gelächter, dröhnende Bachata-Musik aus einer Diskothek, die röhrende Beschleunigung eines Motorrads, das Quietschen von Bremsen. Am stärksten jedoch war er sich des Lichts bewusst. Nachts war es rarer, kostbarer – realer. Am Tage bemerkte man das Licht nicht, man tauchte darin ein, man setzte die Sonnenbrille auf und ignorierte es. Aber bei Nacht war das anders. Die Dunkelheit war wie die Fassung eines Edelsteins, und die Eigenschaften des Lichts waren so zahlreich wie dessen Farben: hell, dunkel, intensiv, gazeartig, zitternd. Die Laternen, die hohen Lichterstapel, welche die Hotels bildeten, die Jachten, deren Ankerlichter aus der samtenen Dunkelheit des Creeks, der kleinen Bucht, hervorfunkelten. Am wohlsten fühlte er sich im Dunkeln, weil er dann geschützt und unsichtbar war und unbeachtet blieb. Die Anonymität war wie ein Umhang, den er bei Tage ablegte, dann aber musste er sich gegen die daraus folgende Sichtbarkeit schützen. Das hatte er vor langer Zeit gelernt, durch schmerzliche Erfahrungen und die LEKTIONEN. Es war die Dunkelheit und die Nichtexistenz, welche sie verlieh, die es möglich machte, dass er seine heilige Pflichtaufgabe, die AKTION, zu Ende brachte, die für ihn ebenso notwendig war wie das Atmen. DIE AKTION … dieser Augenblick, da er ein Niemand war, umhüllt von der Nacht, das war die beste Zeit, weil er dann die Scham und die Reue vergessen konnte und ganz im Moment lebte, mit gesteigerten Sinnesempfindungen, ohne Angst. Er bereitete sich penibel vor, der Verlauf der AKTION selbst konnte jedoch nie wirklich vorhergesagt werden. Immer gab es Abweichungen, Überraschungen. In dieser Hinsicht ähnelte sie der Dichtkunst. Nie wusste man, wohin ein bedeutendes Gedicht einen führte. Es war wie ein Kampf, dessen Ausgang sich in Nebel und Rauch hüllte – das »Gedicht als Ort der Tat«, wie William Carlos Williams einmal schrieb.