Die Fahrtlichter eines vorbeifahrenden Boots glitten durch das Geäst, worauf er sich gegen den Baumstamm drückte, noch tiefer in die flüsternde Dunkelheit eintauchte. Die bevorstehende AKTION ließ ihn an Archy und Mehitabel denken, die in den tiefen, verstärkten Taschen seiner Cargohose hausten. Als Kind, vor DER TOD UND DIE REISE, hatte er die kleinen Bücher über Archy und Mehitabel geliebt, die humorvollen Gedichte und Geschichten darin – Archy, ein Dichter freier Verse, der als Küchenschabe reinkarniert wurde, und Mehitabel, eine struppige streunende Katze. Er identifizierte sich mit beiden. Auch sie waren Niemande, Ungeziefer, verachtet von der Welt. Aber sie waren nobel, und es war richtig, dass er seine Werkzeuge nach ihnen benannt hatte. Sie waren seine einzigen Freunde. Sie ließen ihn niemals im Stich. Und im Gegenzug hielt er sie sauber und scharf, genauso wie es ihm in den LEKTIONEN beigebracht worden war, er hatte sie geschärft, bis sie ein Haar spalten konnten. Sie hätten hell geglänzt im Mondlicht, wenn er sie nicht nach dem Schärfen geschwärzt hätte. Schon bald würde die AKTION sie stumpf machen, das Hervorströmen der warmen Flüssigkeit die Schwärze fortspülen. Mehitabel kam für gewöhnlich als Erste zum Einsatz, ihre einsame Klaue schnitt so schnell und glatt und tief ins Fleisch, dass es keinerlei Schmerzen verursachte, nur ein schneller, gnädiger Schlaf folgte. Anschließend würde Archy seinen Auftritt haben. Der hölzerne Griff fühlte sich an, als wäre er ein Teil seines ArMs So klein und unbedeutend Archy auch war, er besaß die Kraft der Sühne. Beinahe alles konnte er vergessen mit Archy in der Hand, selbst die REISE. Als er älter wurde, war seine Wahrheit klarer und bitterer geworden – und das war gut so, denn Bitternis und Wahrheit waren die einzige Wirklichkeit. Weil sie bitter war. Genauso wie sein eigenes Herz vor Reue bitter geworden war.
Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sich mit der Vergangenheit zu befassen, sondern er musste in der Gegenwart bleiben, so scharf sein wie Mehitabel, den Schweiß bewusst wahrnehmen, der auf seinem Nacken trocknete, den Zigarrenrauch, der mit dem leichten Wind zu ihm wehte, und die seltsamen, wie mechanischen Geräusche des fernen Straßenverkehrs. Denn nun wurde ihm klar, dass das Warten fast vorüber war und die AKTION näher rückte. Er konnte sie förmlich hören und sehen, und bald würde er sie sogar riechen und fühlen. Alles würde ganz schnell geschehen. Erst würde die AKTION kommen, und dann, als Nächstes, das Einzige, was eines Tages – so hoffte er – den Schmerz und die Schuld und die Scham auf ewig zum Verschwinden bringen würde:
Die Abbitte.
22
Agent Coldmoon lümmelte auf dem Queensize-Bett seines Zimmers im Holiday Inn Miami Beach, schaute sich eine Wiederholung der Dick Van Dyke Show an und verdrückte dabei vier Packungen Chocolate-Chip-Kekse, die er aus dem Automaten in der Lobby gezogen hatte, als das Telefon klingelte.
Coldmoon war kein großer Fan der Serie – er hatte ungefähr so viel gemein mit Rob Petrie und seiner 60er-Vorort-Familie wie eine Kolonie von Marsmenschen –, aber immer hatte er Vergnügen daran, vorauszusagen, ob Van Dyke während des Vorspanns über die Ottomane stolpern würde oder nicht. Er wartete einige Sekunden lang – der Ottomane wurde erfolgreich ausgewichen in dieser Episode, genauso wie er vorhergesehen hatte. Erst dann nahm er den Hörer ab.
»Jaa?«
»Special Agent Coldmoon?« Es war Assistant Director Pickett.
Coldmoon griff zur Fernbedienung und schaltete den Fernseher auf stumm. »Ja, Sir.«
»Ich hatte mit einem Anruf von Ihnen gerechnet.«
Pickett gefiel es, wenn man ihn anrief anstatt umgekehrt. Dass er Pickett hin und wieder dazu brachte, ihn anzurufen, war eine von Coldmoons kleinen Unbotmäßigkeiten. »Der Flug hatte Verspätung. Anschließend hatten wir noch eine Besprechung mit dem Dokumentenexperten.«
»Was ist da in Ithaca passiert?«
»Wir sind zur örtlichen Polizeidienststelle gefahren, haben die Fallakten abgeholt, mit der Frau an der Cornell gesprochen, die mit Agatha Flayley das Bewerbungsgespräch führte, und uns dann vom Ersthelfer den Tatort zeigen lassen.«
»Was ist mit dem Motel, in dem die Frau in der Nacht, bevor sie sich umbrachte, abgestiegen war?«
»Wurde vor sechs Jahren abgerissen. Das Personal ist in alle Winde verstreut. Keine Unterlagen.«
»Es war im Grunde also Zeitverschwendung, so wie ich vorausgesagt habe.«
»Wir haben noch nicht alle Akten durchgearbeitet.«
»Um die zu lesen, hätten Sie Miami nicht verlassen müssen.« Ein Seufzer der Verärgerung. »Sie haben also keinerlei neue Erkenntnisse von Ihrer Reise mitgebracht? Überhaupt keine?«
»Nein, Sir, ich –« Coldmoon zögerte, rief sich Pendergasts seltsames Benehmen auf der Brücke in Erinnerung. Als Pendergast dastand und tief Luft holte, als hätte er irgendwas entdeckt oder zwei Puzzleteile zusammengefügt.
Pickett sprang sofort auf Coldmoons Zögern an. »Was? Was ist es?«
»Ich glaube, Pendergast enthält mir etwas vor.«
»Und zwar?«
»Keine Ahnung. Irgendeine Theorie. Einen Handlungsplan vielleicht. Irgendetwas hat sich für ihn heute dort oben in Ithaca herauskristallisiert. Jedenfalls ist es mir so vorgekommen. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.«
»Haben Sie ihn darauf angesprochen?«
Das war eine blöde Frage, und Coldmoon bemühte sich auch nicht besonders, seine Meinung zu verbergen. »Sie müssten Pendergast eigentlich besser kennen. Wenn er ahnt, dass ich ihn aushorchen will, wird er sich nur noch weiter zurückziehen.«
»Nun gut. Haben Sie eine Ahnung, wie sich diese Theorie, oder worum immer es sich dabei handelt, offenbaren wird?«
»Ich … habe das Gefühl, dass ein Sturm heraufzieht.«
»Ein Sturm? Das ist gut. Ja, mehr noch, es ist perfekt.« Es entstand eine Pause. »Sie haben recht – ich kenne Pendergast. Früher oder später wird er etwas Verrücktes anstellen. Irgendetwas aus dem Abseits oder von fragwürdiger Moral oder sogar etwas, das gegen die Regeln verstößt. Darum möchte ich, dass Sie ihn im Auge behalten, Agent Coldmoon. Und wenn dieser Sturm Ihrer Meinung nach kurz vor dem Ausbruch steht, möchte ich, dass Sie mir das melden.«