Jetzt zeigte Pickett ihm die Kehrseite seines Lobs. »Ihre Arbeit hat allerdings auch eine der höchsten Quoten an Tatverdächtigen vorzuweisen, die nicht vor Gericht gestellt werden, da sie – im FBI-Jargon ausgedrückt – im Zuge der Ermittlungen verstorben sind.«
Erneut graziöses Nicken seitens Pendergasts.
»Direktor Longstreet war nicht nur Ihr Mentor, sondern auch Ihr Schutzengel im Bureau. So wie ich das verstehe, scheint er die Aufsichtsorgane von Ihnen ferngehalten zu haben. Er hat Ihre unorthodoxen Methoden verteidigt, Sie vor negativen Konsequenzen bewahrt. Aber jetzt, da er tot ist, steckt die Leitungsebene in einem Dilemma – was den Umgang mit Ihnen angeht, meine ich.«
Inzwischen rechnete Pickett eigentlich damit, eine gewisse Besorgnis im Blick des Agenten aufflackern zu sehen. Aber da war keine. Er griff nach der Schöpfkelle und goss nochmals Wasser auf die Steine. Die Temperatur in der Sauna stieg auf kuschelige 82 Grad.
Pendergast rückte seine Krawatte zurecht und schlug wieder die Beine übereinander. Es hatte nicht einmal den Anschein, als würde er schwitzen.
»Was wir beschlossen haben, ist, kurz gesagt, Ihnen freie Hand zu lassen, weiterhin das zu tun, was Sie am besten können: in psychologischer Hinsicht unorthodoxe Mörder zur Strecke zu bringen, und zwar mittels jener Methoden, mit denen Sie bislang Erfolg hatten. Selbstverständlich gelten gewisse Einschränkungen.«
»Selbstverständlich«, sagte Pendergast.
»Was uns zu Ihrem neuen Auftrag bringt. Just am heutigen Morgen wurde auf einem Grab in Miami Beach ein menschliches Herz gefunden. Bei der in dem Grab Beigesetzten handelt es sich um eine gewisse Elise Baxter, die sich mit einem Bettlaken erdrosselt hat, und zwar vor elf Jahren, in Katahdin, Maine. Auf dem Grab –«
»Warum wurde Ms Baxter in Florida beigesetzt?«, unterbrach Pendergast höflich.
Pickett stutzte. Er ließ sich gar nicht gerne unterbrechen. »Sie wohnte in Miami. In Maine war sie im Urlaub. Die Angehörigen haben ihren Leichnam zur Beisetzung mit dem Flugzeug nach Hause zurückgeholt.« Er machte eine Pause, um sicherzustellen, dass Pendergast keine weiteren Zwischenfragen stellte, und griff nach der Klarsichthülle mit dem einen Blatt Papier darin. »Auf dem Grab fand sich ein Brief. Darin heißt es –«, er sah auf das Blatt, »›Liebe Elise, das, was Dir widerfahren ist, tut mir sehr leid. Der Gedanke, wie sehr Du gelitten haben musst, verfolgt mich schon seit Jahren. Ich hoffe, Du nimmst dieses Geschenk und mein aufrichtiges Beileid an. So lass uns also, Du und ich – aber andere warten ebenfalls auf Geschenke.‹ Unterzeichnet ist der Brief mit ›Mister Brokenhearts‹.«
»Sehr zuvorkommend von Mister Brokenhearts«, sagte Pendergast nach einem Moment, »obschon das Geschenk von einem ziemlich schlechten Geschmack zeugt.«
Pickett runzelte die Stirn. Um seine Augen herum hatten sich kleine Schweißperlen gebildet, aber er konnte noch immer nicht den geringsten Anflug von Unbotmäßigkeit bei diesem Pendergast erkennen. Er saß unbewegt da, die Ruhe selbst, trotz der Hitze.
»Das Herz wurde von einer Besucherin des Friedhofs heute Morgen gegen Viertel vor acht gefunden. Um halb elf wurde die Leiche einer Frau unter einem Gebüsch am Boardwalk in Miami Beach entdeckt, rund fünfzehn Kilometer südlich vom Friedhof. Das Herz war ihr herausgeschnitten worden. Die Polizei Miami Beach bearbeitet noch den Tatort, aber eines wissen wir bereits: Das Herz des Opfers ist dasjenige, das auf dem Grab gefunden wurde.«
Zum ersten Mal sah Pickett etwas in Pendergasts Augen aufblitzen – ein Funkeln, wie wenn man einen Brillanten ins Licht hält.
»Wir wissen zwar nicht, ob eine Verbindung zwischen Elise Baxter und der Frau, die heute ermordet wurde, besteht. Aber es liegt auf der Hand, dass es eine geben muss. Und wenn man dieser Erwähnung von ›anderen‹ in dem Brief trauen kann, könnten weitere Morde bevorstehen. Elise Baxter verstarb in Maine. Auch wenn es sich um einen Suizid handelte, schreibt die Amtshilfe zwischen den Bundesstaaten vor, dass wir uns damit befassen müssen.« Er legte das Blatt Papier auf die Bank und schob es Richtung Pendergast. »Sie fliegen gleich morgen früh nach Miami, um in dem Mord zu ermitteln.«
Das Funkeln war noch immer nicht aus Pendergasts Augen verschwunden. »Ausgezeichnet. Ganz ausgezeichnet.«
Als Pendergast die Hand nach dem Blatt Papier ausstreckte, hielt Pickett es fest. »Nur eines noch. Sie werden mit einem Partner zusammenarbeiten.«
Pendergast saß nach wie vor völlig reglos da.
»Ich erwähnte bereits, dass es ein paar Einschränkungen geben wird. Folgende ist die größte: Howard Longstreet weilt nicht mehr unter uns und kann Ihnen, Agent Pendergast, weder den Rücken frei halten noch Sie nach Hause zurückholen, wenn Sie vom Wege des Gesetzes abkommen. Das Bureau kann Ihre bemerkenswerte Erfolgsbilanz zwar nicht einfach ignorieren, doch es kann auch nicht die hohe Sterblichkeitsrate übersehen, die Sie zu deren Erlangung angehäuft haben. Deshalb stellen wir Ihnen einen Partner an die Seite, was im FBI natürlich ein ganz reguläres Verfahren ist. Ich weise Ihnen hiermit einen unserer intelligentesten jungen Agenten zu. Selbstverständlich werden Sie die Ermittlungen leiten, aber er wird Sie dabei unterstützen, und zwar auf Schritt und Tritt. Er wird Ihnen sowohl als Diskutant dienen … als auch, wenn nötig, als Korrektiv. Und wer weiß? Möglicherweise werden Sie am Ende diese Regelung sogar zu schätzen wissen.«
»Ich glaube, meine Bilanz spricht für sich selbst«, sagte Pendergast in dem ihm eigenen, seidenweichen Südstaatler-Tonfall. »Die besten Ergebnisse erziele ich, wenn ich eigenständig bleibe. Ein Partner könnte meine Ermittlungsarbeit behindern.«
»Aber Sie schienen doch ziemlich gut mit diesem New Yorker Cop zusammenzuarbeiten – wie war noch gleich sein Name? D’Agosta.«
»Er ist außergewöhnlich.«
»Der Mann, den ich Ihnen zuweise, ist auch außergewöhnlich. Wichtiger noch, die Zuweisung ist nicht verhandelbar. Entweder Sie akzeptieren einen Partner, oder wir übertragen den Fall jemand anderem.« Und lassen dich am langen Arm verhungern, bis du einlenkst, dachte Pickett im Stillen.
Während dieser kurzen Rede hatte Pendergasts Mimik eine gewisse Wandlung durchlaufen. Es war ein höchst merkwürdiger Gesichtsausdruck, den Pickett bei all seiner großen Erfahrung in psychologischen Dingen allerdings nicht recht deuten konnte. Einen Moment lang war das Zischen der Saunasteine der einzige Laut im Raum.
»Ich interpretiere Ihr Schweigen als Zustimmung. Und jetzt können Sie genauso gut Ihren neuen Partner kennenlernen. Agent Coldmoon, würden Sie sich uns bitte anschließen?«
Daraufhin stand der schweigsame junge Mann in der gegenüberliegenden Ecke auf, schlang sich das Saunalaken um die Taille und kam – am ganzen Körper vor Schweiß glänzend – herüber und stellte sich vor ihnen hin. Er hatte einen olivbraunen Teint und fein geschnittene und in mancher Hinsicht asiatisch wirkende Gesichtszüge. Er warf einen leidenschaftslosen Blick auf die Männer, die dort vor ihm saßen. Durchtrainiert und kerzengerade, sah er fast aus wie ein mustergültiger Agent. Nur das Haar – rabenschwarz, ziemlich lang, in der Mitte gescheitelt – passte nicht ins Bild. Pickett schmunzelte im Stillen. Dass er diese beiden Männer zusammengebracht hatte, war ein Meisterstück. Pendergast würde noch sein blaues Wunder erleben.
»Das ist Special Agent Coldmoon«, sagte Pickett. »Er arbeitet bereits seit acht Jahren bei uns und hat sich in der Abteilung Cyberkriminalität wie auch in der Abteilung Strafrechtliche Ermittlungen ausgezeichnet. Die Berichte über seinen Fitnesszustand, die seine Vorgesetzten eingereicht haben, waren stets vorbildlich. Vor achtzehn Monaten hat man ihm die Tapferkeitsmedaille des FBI für seinen verdienstvollen Einsatz während einer verdeckten Ermittlung in Philadelphia verliehen. Es würde mich nicht wundern, wenn er eines Tages ebenso viele Auszeichnungen erhielte wie Sie. Ich glaube, Sie werden feststellen, dass er ein Schnelllerner ist.«