Als sie aufwuchs, war Misty stets schlauer und attraktiver gewesen als ihre Klassenkameradinnen, weswegen sie eine Kindheit und Jugend voller Ressentiments und Ausgrenzung ertragen musste. Dies alles änderte sich, als sie aufs Wellesley ging und ihr wissenshungriger Intellekt plötzlich voll erblühte. Dort erlernte sie die Kunst der Konversation und die Art und Weise, wie sie ihr gutes Aussehen als Vorteil oder, wenn nötig, als Waffe einsetzen konnte. Am Ende machte sie ihren Master in Kunstgeschichte, Klassischer Literatur und Musik, ein faszinierender Vorrat an Geheimwissen, auch wenn sie, wie ihr klar wurde, als sie ihr Diplom in der Tasche hatte, absolut keine Ahnung hatte, was sie damit anfangen sollte.
Sie hatte mit einem Teilzeit-Studentenjob ziemlich viel Geld verdient und beschlossen – weil sie keine anderen Pläne hatte –, es für eine große Reise auf den Kopf zu hauen, bevor sie den nächsten Schritt machte. Wie sie feststellte, bereitete es ihr Vergnügen, sich in Spielcasinos zu schleichen und in den höchsten Kreisen Europas zu verkehren, zu denen sie sich Zutritt verschaffen konnte. Neun Monate später kam sie nach Key Biscayne, wo ein Jaguar XK sie beinahe überfahren hätte, als sie den Crandon Boulevard überquerte.
Am Steuer saß die sechzig Jahre alte Carmen Held, die nach dem Tod ihres Ehemannes vier Monate zuvor noch ganz zerstreut und konfus war. Schockiert von dem, was sie da fast getan hätte, bestand die Frau darauf, Misty ins nächstgelegene Gebäude zu bringen, ein Edelrestaurant, wie sich herausstellte. Bei einem ausgedehnten Mittagessen freundeten sich die beiden Frauen an. Ms Held – Carmen – schüttete Misty ihr Herz aus. Sie war einsam und traurig und vor allem verbittert. Da hatte sie endlich das Geld und die Zeit, um ihr Leben in vollen Zügen genießen zu können, aber niemanden mehr, der daran teilhaben wollte.
Misty hatte großes Vergnügen an diesem Lunch. Sie wusste bereits, dass sie die Gesellschaft älterer Menschen schätzte, ja sogar bevorzugte. Andersherum genossen diese offenkundig Mistys Fähigkeit, sich über viele Themen auf intelligente Weise zu unterhalten, die Art, wie sie es ihnen sehr leicht machte, sich ihr anzuvertrauen. Studenten waren ja ewig knapp bei Kasse, und es war immer nett, essen zu gehen und von jemandem eingeladen zu werden, dem es egal war, wie viel Geld er ausgab. Carmen war sechzig, hatte sich aber sehr gut gehalten und war – wenn man die beginnenden Falten übersah – wirklich attraktiv. Ziemlich attraktiv.
Auf einmal kam Misty eine sonderbare und dennoch völlig vernünftige Idee.
Sie hatte keine Pläne für den Abend, und als Carmen sagte, sie fahre zurück nach Miami Beach, und Misty anbot, sie mitzunehmen, nahm sie an. Nach kurzer Zeit wurde Carmen ihre erste besondere Freundin – und so entwickelte sich aus Mistys seltsamer, jedoch vernünftiger Idee schon bald ein Beruf.
Ein vorübergehender Beruf, rief sie sich in Erinnerung, als sie vom Bürgersteig trat und sich unter den dunklen Palmen auf den Weg zu Harrys Jacht machte. Die Tätigkeit war erfüllend, Misty konnte hervorragend auswärts essen und sich gut kleiden, aber es war nichts, das sie noch lange fortsetzen wollte. In jüngster Zeit hatte sie des Öfteren daran gedacht, Jura zu studieren. Sie hatte schon zweihunderttausend Dollar gespart, das war mehr als ausreichend. Noch ein halbes Jahr, dann würde sie die Bewerbungen an den Unis angehen.
Sie ging langsamer, runzelte erneut die Stirn. Die Jacht, deren Ankerlichter in der samtigen Dunkelheit funkelten, war ihr unvertraut. Die Liquidity musste kurz dahinter vertäut liegen. Harry stellte sicherlich schon die Champagnergläser bereit; sie sollte sich besser beeilen. Sie beschleunigte ihre Schritte, verärgert darüber, dass ihre Schuhe im feuchten Gras ein wenig einsanken. Vielleicht war ein halbes Jahr ja zu früh. Denn sie konnte ihre besonderen Freunde ja nicht von heute auf morgen im Stich lassen – und sicherlich nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die Bewerbungen konnten noch ein Jahr warten. Sie war noch nicht ganz bereit, keinen cru classé Bordeaux mehr zu trinken, und …
Aus der von Insekten durchschwirrten Dunkelheit zwischen den Palmen drang ein raschelndes Geräusch zu Misty. Sie wandte sich um, aber noch während sie sich umdrehte, fuhr irgendetwas tief über ihren Hals – beängstigend schnell, aber seltsam schmerzfrei. Sie hörte einen kurzen, unwillkürlichen Laut, und dann kam es ihr beinahe so vor, als würde sie einschlafen.
Auf dem großen Balkon seiner Präsidentensuite im Versailles Tower des Fontainebleau trank Pendergast mit spitzen Fingern einen Schluck von dem Tee, den der Kellner ihm gebracht hatte, und nickte zustimmend. Ein echter First-Flush-Darjeeling, geerntet auf einer der Höhenplantagen in Westbengalen; die Grasnoten des zarten, aromatischen Bouquets waren unverkennbar. Er schaute dem Kellner zu, wie der das Zimmer verließ, trank dann noch einen Schluck, schließlich stellte er die Tasse zurück neben die Teekanne, ließ sich wieder auf den bequemen Polstersessel nieder und schloss die Augen.
Links und rechts von dem Sessel lagen zwei Stapel mit Fallakten, jede Mappe durch provisorische Briefbeschwerer vor vereinzelten Windstößen vom Meer geschützt: die Les Baer 1911 auf dem einen Stapel, die Reservewaffe, eine Glock 27 Gen4, auf dem anderen. Er hatte die Akten mit größter Sorgfalt durchgelesen, aber sie hatten ihm nichts Neues zu bieten.
Langsam flocht er in Gedanken die diversen Fäden der jüngsten Morde und lange zurückliegenden Selbstmorde zusammen, jene, die passten, und – was interessanter war – jene, die nicht passten. Währenddessen ließen die nächtlichen Geräusche und Sinnesreize von Südflorida allmählich nach: der schwache Geruch des Meeres, das Gemurmel der Gespräche in den Bars und Outdoor-Restaurants weit unter ihm, die herrlich warm-feuchte Luft, die seiner Hauttemperatur so genau entsprach.
Jetzt schob er dieses mentale Weben beiseite. Er wusste ja, was als Nächstes zu tun war. Entscheidend war, das Ziel zu erreichen und dabei möglichst wenig Porzellan zu zerschlagen.
»Wär’s abgetan, so wie’s getan ist«, sagte er halblaut, »dann wär’s gut, man tät’ es eilig.« Und damit öffnete er die Augen, richtete sich auf und griff wieder nach seiner Tasse Tee.
Gleichzeitig nahm er mit seinem scharfen Gehör einen Laut wahr, leise, aber erkennbar – ein jäher gurgelnder Schrei, der, ganz anders als das Gelächter von unten, sofort erstarb.
Die Tasse auf halbem Weg zum Mund, schrak Pendergast zusammen. Er wartete, aber das Geräusch wiederholte sich nicht. Weil die große Masse der Hotels einen Bogen um ihn beschrieb, konnte er nicht genau erkennen, woher das Geräusch kam. Dennoch hob Pendergast die Tasse an die Lippen und nahm einen kleinen Schluck, diesmal bedauernd, im Wissen, dass der Tee lauwarm oder Schlimmeres sein würde, wenn er zurückgekehrt wäre. Er stellte die Tasse wieder hin, stand auf, griff nach den beiden Schusswaffen und verließ das Hotelzimmer.
24
Als er in dem riesigen kühlen Raum stand, konnte Coldmoon nicht umhin, ein starkes Déjà-vu zu empfinden. Und das war nur allzu verständlich. Denn erst vor Kurzem waren sie in einem schimmeligen Mausoleum gewesen, und jetzt besuchten sie schon wieder ein Haus der Toten. Dieses nannte sich »Kolumbarium«. Coldmoon hatte nicht gewusst, was das Wort bedeutete, bis Pendergast ihm erklärte, dass es sich um ein Gebäude handle, in dem die Urnen mit der Asche einer Person darin zur ewigen Ruhe in Wandfächer gestellt wurden. Dieses Gebäude war sehr viel schöner als das Flayley-Mausoleum, ein Rundbau mit einer Kuppel, viel Blattgold und weißem Marmor, die Wandfächer waren verglast. Die Urnen darin waren zu sehen, dazu Statuetten und Porzellan- oder gravierte Silberplaketten, auf denen der Name und die Lebensdaten des Verstorbenen vermerkt waren. Trotzdem kam Coldmoon das Ganze grausam und barbarisch vor. Was für einen Sinn hatte es, die Asche des Vorfahren aufzuheben, nachdem man ihn derart respektlos behandelt hatte, seinen Leichnam zu verbrennen und somit seine Reise in die Welt der Geister zu erschweren?