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Sein Blick schweifte an dem Absperrband vorbei zu dem Wandfach, bei dem es sich nun um einen Tatort handelte. In der Nische stand eine Urne aus reinweißem Marmor. Die aber nicht mehr weiß war, denn unter dem Deckel war eine Blutschliere hervorgekommen, an der Urne herunter- und auf dem Glasboden des Wandfachs entlanggelaufen, von wo ein paar kleine Blutstropfen auf den weißen Marmorfußboden gefallen waren.

»Wie’s aussieht«, sagte Pendergast leise und betrachtete die Umgebung, »wurde ein Teil der Asche aus der Urne herausgenommen.« Er deutete auf einen grauen Haufen auf dem Fußboden, der mit einem kleinen Tatortfähnchen markiert war. »Dadurch fand das Herz in der Urne Platz. Der Brief wurde ins Wandfach gelegt, aufrecht platziert zwischen die Porzellan-Figurine des heiligen Franz von Assisi und der Namensplakette der Toten.« Er drehte sich Coldmoon zu. »Sehen Sie irgendetwas Merkwürdiges?«

»Die ganze Sache ist merkwürdig.«

Pendergast sah ihn an, als wäre er ein begriffsstutziger Schüler. »Im Gegenteil, meinem Gefühl nach handelt es sich hier um die nahezu perfekte Wiederholung des vorherigen Modus Operandi. Merkwürdig, oder zumindest vielsagend, ist die Beständigkeit der Stillleben von Brokenhearts.«

»Glauben Sie, dass das hier inszeniert wurde?«

»Ja. Nicht für uns allerdings, sondern aus persönlichen, uns unbekannten Gründen. Brokenhearts ist keiner, der das Drama liebt. Er lebt in seiner eigenen Gedankenwelt und schert sich wenig um uns beziehungsweise die Ermittlung. Ah, da ist ja der Brief.«

Sandoval hielt sich noch am Tatort, dem Indian Creek, auf, wo Pendergast zusammen mit anderen den jüngsten Leichnam gefunden hatte. Doch die Kriminaltechnik hatte sich beeilt, sobald der Fundort des Herzens bekannt geworden war. Jetzt nahm ein Kriminaltechniker den Brief aus dem Wandfach und brachte ihn herüber. Coldmoon fotografierte das Schreiben mit seinem Mobiltelefon. Derweil las Pendergast laut vor:

Meine liebste Mary,

die Engel weinen um Dich, und ich weine mit ihnen. Bitte nimm dieses Geschenk an, ich gebe es Dir im Gefühl größten Bedauerns.

Mit großer Zuneigung

Mister Brokenhearts

PS: Die Sterne bewegen sich noch immer, die Zeit vergeht, und Mister Brokenhearts wird erneut Abbitte leisten.

Pendergast nickte; der Kriminaltechniker nahm den Brief an sich. Coldmoon fiel ein Leuchten in Pendergasts Zügen auf, eine Art unterdrücktes Schimmern der Erregung.

»Was glauben Sie?«, traute sich Coldmoon zu fragen.

»Der Brief ist höchst aufschlussreich.«

»Ich bin ganz Ohr.«

»Zunächst einmal haben wir es hier wieder mit einem literarischen Zitat zu tun, diesmal aus Doktor Faustus. Im Original heißt es. ›Die Sterne bewegen sich noch immer, die Zeit vergeht, die Uhr wird schlagen.‹ Ich nehme an, Sie sind mit Christopher Marlowe vertraut, so, wie Sie es auch mit Eliot und Shakespeare sind?«

»Tut mir leid, ich hab nicht in Oxford studiert«, sagte Coldmoon, wider Willen verärgert.

»Mein Beileid. In dem Stück geht es um einen Gelehrten, der im Streben nach größerem Wissen seine Seele an den Teufel verkauft. Das Schlagen der Uhr ist eine Anspielung darauf, dass Mephistopheles erscheint, um Faustus zu holen und in die Hölle hinabzuziehen.«

»Und was heißt das?«

»Dass die Hölle die ultimative Buße bedeutet, die finale Abbitte.«

Coldmoon wartete auf weitere Erläuterungen, die jedoch ausblieben. Das war typisch Pendergast: Er behauptete zwar, dass der Brief aufschlussreich sei, redete im Grunde aber nur um den heißen Brei herum. Er entschloss sich, seinerseits eine Beobachtung vorzutragen. »Das PS scheint an uns adressiert zu sein, wie Ihnen sicher aufgefallen ist. Das ist anders als bei den beiden früheren Morden.«

»In der Tat. Auch wenn ich nicht glaube, dass Brokenhearts Bewegung in die ganze Sache bringen will – ich nehme an, er will uns etwas erklären.«

Beinahe hätte Coldmoon gefragt, Was denn?, entschied sich aber dagegen, Pendergast wieder einmal eine Gelegenheit zu bieten, sich zu zieren.

Schweigend schauten sie den Kriminaltechnikern zu, die den Tatort weiter durchsuchten. Coldmoon hörte in der Ferne das Getöse der Medienleute, die sich am Rande des Geländes mit dem Kolumbarium versammelt hatten, hinter der Absperrung der Polizei. Nach diesem dritten Mord war der Damm gebrochen. Über die Brokenhearts-Story wurde landesweit berichtet, und alle waren gekommen und verlangten lautstark nach Informationen: CNN, Dateline NBC, die ganze Meute.

»Ich frage mich, wie dieser Reporter, Smithback, den Namen Brokenhearts herausgefunden hat«, sagte Coldmoon. »Sollte der nicht unter Verschluss bleiben?«

Anstatt zu antworten, ging Pendergast zum Wandfach. »Mary S. Adler«, las er den Namen ab, der auf der Plakette eingraviert war. »14. April 1980 bis 7. Juli 2006. Wir wissen bereits, dass sie in Rocky Mount, North Carolina, ums Leben gekommen ist. Suizid durch Erhängen. Und dass sie sich vier Monate vor Baxter und acht Monate vor Flayley das Leben genommen hat.«

»Ich bezweifle, dass uns die Akten irgendetwas verraten werden. Brokenhearts hat diese Frauen ganz offensichtlich ausgewählt, weil sie Selbstmord begangen haben. Alles, was wir darüber herausfinden werden, wissen wir bereits. Ich hingegen würde fragen: Warum wählt der Mörder anscheinend Selbstmorde aus, die in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum stattgefunden haben?«

Pendergast drehte sich ihm zu. Sein Blick wirkte durchaus freundlich. »Agent Coldmoon, diese Frage ist in der Tat von Bedeutung und muss tatsächlich gestellt werden. Trotzdem: Ich habe das Gefühl, dass unser Mörder auf einer höheren logischen Ebene operiert.«

»Und was heißt das?«

»Erinnern Sie sich bitte an meinen Hinweis auf das Zitat aus Doktor Faustus. Ich habe den Eindruck, dass unser Mörder sich persönlich verantwortlich fühlt für diese Todesfälle, bei denen es sich im Übrigen um Selbstmorde handeln kann – oder auch nicht

Coldmoon unterdrückte den Wunsch, die Augen zu verdrehen. »Wenn es sich nicht um Selbstmorde handelt, um was dann? Laut dem Profiler wäre unser Mann höchstens vierzehn Jahre alt gewesen, als sich die Todesfälle ereigneten.«

»Dessen bin ich mir durchaus bewusst.«

»Welche Verbindung könnte dann zu dem Täter bestehen?«

»Ich behaupte ja nicht, dass hier notwendigerweise eine physische Verbindung vorliegen muss. Aber die Frage, die Sie hinsichtlich der zeitlichen Abfolge aufgeworfen haben, ist in der Tat ein Rätsel, das ins Zentrum unseres Falls führt. Unser Mann hat mit beängstigender Regelmäßigkeit und Schnelligkeit gemordet. Wir müssen Elise Baxter exhumieren.«

O nein. Nicht schon wieder. »Pickett kriegt einen Wutanfall, wenn Sie ihn noch einmal darum bitten.«

»Es gibt doch wohl eine höhere Loyalität, als Rücksicht auf die Übellaunigkeit eines Menschen zu nehmen, oder, Agent Coldmoon?«

»Wollen Sie ihn wirklich derart auf die Palme bringen?«

»Was bleibt uns anderes übrig? Die einzige andere Option besteht darin, auf das Gutachten der Obduktion von Mary Adler zu warten. Und ich würde vermuten, dass es ungefähr so hilfreich sein wird wie die vorhergehenden – soll heißen: gar nicht. Wenn die Polizei zu dem Schluss gelangt ist, dass es sich um Selbstmord handelt, stellt der Rechtsmediziner auch nichts anderes fest.«

Pendergast wartete, bis sie zu ihrem Interimsbüro beim FBI in Miami zurückkehrten, ehe er den Anruf tätigte. Coldmoon bekam nur die eine Seite des Gesprächs mit, es war aber kurz und enthielt keine Überraschungen. Pendergast nahm den Hörer vom Ohr.