Nachdem sie die Kurve durchfahren hatten, verlief die Okeechobee Road pfeilgerade durch die flache Landschaft. Der Asphalt flirrte in der Hitze, Luftspiegelungen entstanden und verschwanden auf dem Straßenbelag. Sie gelangten in einen Abschnitt mit Feuchtgebieten, mit hoch aufragenden Bäumen, knollenförmigen Wurzelsystemen, die ins Wasser reichten wie Schlangenknäuel. Sie fuhren an einer großen Familie von in der Sonne badenden Alligatoren vorbei, die entlang des Ufers im Schlamm lagen, schwarz und ölig und in der Sonne glänzend. Einige lagen sogar übereinander. Machten die eigentlich nie die Augen zu? Coldmoon schauderte es. Gott, wie er den Anblick dieser Viecher hasste – und plötzlich schienen sie überall zu sein, was ungefähr mit der jähen Abnahme der menschlichen Bevölkerung korrespondierte. Er hatte ja keine Ahnung gehabt, dass es derart viele Alligatoren in Florida gab. Sie waren wie riesengroße Schlangen mit Beinen. Wieso war Alligatorenleder eigentlich so teuer, wenn man nur in die Bayous von Südflorida fahren musste und so viele abknallen konnte, wie man wollte?
»Unser Abzweig sollte in etwa sieben Kilometern kommen«, sagte Pendergast.
Coldmoon checkte sein iPhone. Zum Glück zeigte es noch zwei Balken – das letzte Mal, als sie raus aus der Stadt gefahren waren, hatte er fast sofort keinen Funkempfang mehr gehabt. »Sieben komma eins Kilometer, um genau zu sein«, fuhr Pendergast fort. »Dann noch sechzehn bis Paradise Landing und von dort viereinhalb weiter nach Canepatch.«
»Na toll.« Coldmoon, der die Vernehmung unbedingt schnell hinter sich haben wollte, beschleunigte den Wagen erneut, diesmal auf hundertvierzig Stundenkilometer. Der tiefer gelegte Mustang schien die hohen Geschwindigkeiten mehr zu mögen: Der Motor wurde leise, gab nur noch ein leises Brummen von sich, wobei der Wagen aufgrund der Laminarströmung sicher und fest auf der Straße lag. Den deutlichsten Hinweis darauf, wie schnell sie unterwegs waren, lieferten die Insekten, die inzwischen wie Hagel auf die Windschutzscheibe prallten, wobei besonders große Exemplare von Zeit zu Zeit einen hässlichen gelben Fleck hinterließen.
Der Abzweig kam schneller, als sie gedacht hatten. Man sah kein Straßenschild, aber es war der einzige weit und breit. Coldmoon bremste sanft und fest und steuerte den Shelby auf die Nebenstraße. Diese war zunächst asphaltiert und hatte reichlich Schlaglöcher, aber nach ein paar Kilometern verwandelte sie sich in eine schmale Straße mit einem Belag aus zerdrückten Austernschalen. Die Trailer und ausgeschlachteten, verrosteten Motoren, die sie zuvor gesehen hatten, waren verschwunden. Stattdessen fuhren sie jetzt an kleinen Seen mit Brackwasser, an Sägegrasmarschen und hohen, merkwürdig aussehenden Pflanzen vorbei.
»Sind das hier die Everglades?«, fragte Coldmoon.
»Ich denke, wir befinden uns in dem Nationalpark, seit wir vom Highway abgebogen sind.«
Er blickte sich um. »Unfassbar, wie weit man hier fahren müsste, um sich ein Bier zu besorgen.«
»Noch weiter, würde ich meinen, für einen anständigen Bordeaux.«
Coldmoon war ja leere Weite gewohnt, aber das war die Weite der Prärie in South Dakota. Diese Art von Trostlosigkeit fühlte sich dagegen merkwürdig klaustrophobisch an, als würde man eingeklemmt von den tropischen Gewächsen, die mit jeder Meile dichter wurden. »Wer hat denn Lust, hier draußen zu leben?«, sagte er halblaut.
»Wir haben es mit einem Mann zu tun«, sagte Pendergast, »der sich sicher war, dass seine Frau brutal ermordet wurde. Zu Recht oder Unrecht war er davon überzeugt, dass es sich nicht um einen Selbstmord handelte, aber er konnte niemanden von seiner Meinung überzeugen, vor allem nicht die Strafverfolgungsbehörden. Er wurde abgelehnt, ignoriert, belächelt, als sei er verrückt. Eine solche Erfahrung kann einen Menschen brechen. Es ist deshalb keine Überraschung, dass er sich entschlossen hat, sich von den Menschen zurückzuziehen.«
»Okay«, sagte Coldmoon. »Aber das war vor zwölf Jahren. Glauben Sie, dass Vance immer noch hier wohnt – oder überhaupt noch am Leben ist?«
»Vor zwei Jahren war er es noch. Wir werden das noch früh genug herausfinden.«
»Jaja. Aber haben Sie den Film Beim Sterben ist jeder der Erste gesehen?«
»Nein.«
»Na, ich sage nur eins: Wenn ich anfange, Banjos zu hören, kehre ich auf der Stelle um.«
Hinter ihnen wirbelte der Wagen eine weiße Staubfahne auf. Als der Straßenzustand sich verschlechterte, drosselte Coldmoon die Geschwindigkeit. Die üppige Vegetation wich riesigen, hohen Gräsern, so hoch, dass Coldmoon das Gefühl hatte, sie würden in einen grünen Graben fahren. Anderthalb Kilometer weiter ragte ein dunkler Sumpfzypressenwald vor ihnen auf. Er schien endlos zu sein, wurde dunkler und dunkler, bis sie sich in einem düsteren Sumpfgebiet wiederfanden, wobei die erhöhte Sandpiste zwischen den mächtigen Stämmen der Zypressen und einem dichten, struppigen Unterholz verlief. Hier und da, an den wenigen Stellen, wo die Sonne hinkam, war der schmierige Glanz von Alligatorenrücken zu sehen.
»Noch zwei Kilometer bis Paradise Landing«, sagte Coldmoon und schaute auf sein Handy. Statt zwei Balken wurde jetzt nur noch einer angezeigt. Nach ein paar weiteren Minuten war zwischen den Bäumen Sonnenlicht zu erkennen, dann beschrieb die Straße eine Kurve und führte an einem breiten Kanal entlang. Der Wald lichtete sich, zum Vorschein kam eine verbrannt-grüne Landschaft mit mehreren durchhängenden Anlegestegen, die ins Wasser ragten, einem Einkaufsladen mit heruntergelassenen Rollläden und zwei verrosteten Benzin-Zapfsäulen unter einem Vordach aus Metall. Hinter der Bootsanlage konnte Coldmoon parallele Fahrbahnen einer einstmals gepflasterten breiten Straße sehen, gesäumt von Straßenlaternen und Reihen halb errichteter Häuser, Betonhüllen, die aufgegeben worden waren, bevor der Bau fertig war. Am nahen Ende der breiten Straße lagen ein paar Kajaks aus verschossenem Fiberglas, wie übereinandergeworfen und von zweifelhafter Seetüchtigkeit. Auf einem abblätternden Schild stand:
WILLKOMMEN IN PARADISE LANDING.
Coldmoon brachte den Shelby zum Stehen, und sie stiegen aus. Er blickte sich wachsam nach Alligatoren um, aber wenn welche in der Nähe waren, dann waren sie in dem Kanal untergetaucht. Ein paar Reiher flogen von den Stegpfosten auf.
»Sieht aus wie eines dieser gescheiterten Entwicklungsgebiete in Florida, von denen man liest.« Coldmoon warf einen kurzen Blick auf sein Handy. »Wir befinden uns immer noch fünf Kilometer von Canepatch entfernt. Aber die Straße scheint hier zu enden.«
Pendergast sagte nichts, richtete den Blick nur nach vorn auf die braune Wasserstraße.
»Nach Ihnen, Kemosabe.«
Pendergast, der immer noch nicht antwortete, ging zur Bootsanlage hinunter. Coldmoon folgte ihm. Ein kleines Propellerboot aus Aluminium, bei Weitem nicht so alt wie die Umgebung, lag an einem der Anlegeplätze vertäut.
»Offensichtlich nutzt noch irgendjemand diesen Ort«, sagte Pendergast. Er beugte sich vor und sah sich das Boot genauer an. »Und der Schlüssel steckt. Wie praktisch.«
»Sie würden es stehlen«, sagte Coldmoon.
»Wir haben das Recht, es zu requirieren«, erwiderte Pendergast. »Was aber gar nicht nötig sein wird.« Mit einem Nicken deutete er auf ein schiefes Schild aus Holz, auf das irgendjemand gemalt hatte:
Propellerboot zu mieten $10/Std. $50/Tag
Tank mit Benzin: $20
»Unheimlich vertrauenswürdig hier draußen«, sagte Coldmoon.
»Ich bezweifle allerdings, dass jemand den weiten Weg hierher zurücklegen würde, nur um ein so spezialisiertes Wasserfahrzeug zu entführen.«
Coldmoon rief einen Gruß – einmal, zweimal –, bekam aber keine Antwort – bis auf das Gesumme der Insekten.
Pendergast griff in seinen schwarzen Anzug – Coldmoon wunderte sich schon längst nicht mehr darüber, wie Pendergast es aushielt, bei dieser Hitze und Schwüle im Anzug herumzulaufen –, holte einen Geld-Clip hervor, zog einen Hundert-Dollar-Schein heraus und spießte diesen auf einen rostigen Nagel, der aus dem Schild ragte. Dann deutete er auf das Boot. »Sie sind eingeladen.«