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Fauchet hatte die Akte zu Jasmine Oriol bereits gelesen und wusste deshalb, dass sie weitaus dürftiger war als Laurie Winters’. Oriol war in einem Motel außerhalb von Savannah, Georgia, aufgefunden worden. Der Fall war nicht von einem Rechtsmediziner betreut worden, sondern von einem nicht promovierten, amtlich bestellten Bezirks-Coroner, der wiederum die Obduktion einem Assistenzarzt am örtlichen Krankenhaus überlassen hatte. Es konnte durchaus sein, dass es sich um seine erste echte Autopsie handelte. Und so sah die Arbeit auch aus. Die forensischen Fotografien waren amateurhaft und unterbelichtet. Das Gutachten, welches sie begleitete, war nahezu nutzlos. Keines der Fotos des Zungenbeins war so scharf, dass es irgendetwas Nützliches zeigte. Der toxikologische Bericht deutete darauf hin, dass man, so wie bei Winters, in Oriols Körper weder Alkohol noch Drogen nachgewiesen hatte – und das war’s dann auch schon. Fauchet schüttelte den Kopf, suchte die Fotos zusammen und steckte sie zusammen mit dem Gutachten des Coroners zurück in die Akte. Ohne Exhumierung musste sie den Bericht in Bezug auf den gebrochenen Zungenbeinflügel einfach glauben. Andererseits waren es die nicht medizinischen Aspekte des Verbrechens, die sie inzwischen faszinierten – vor allem die Möglichkeit, dass sich der ermittelnde Cop, so wie im Fall von Laurie Winters, die Nummernschilder notiert hatte.
Sie schlug die Berichte der Polizei auf. Jasmine Oriol war unterwegs gewesen, von Miami kommend, um ihren Verlobten in New York City zu besuchen, wo er Medizin studierte. Es war der erste Abend ihrer Überlandfahrt. Florida ist ein verdammt langer Bundesstaat, und womöglich war Jasmine morgens erst spät losgefahren, jedenfalls war sie nicht weit gekommen.
Zu Fauchets großer Enttäuschung hatte der ermittelnde Beamte das Gästebuch des Motels nicht kopiert und auch nicht die anderen Gäste und die Kennzeichen ihrer Autos aufgelistet. Aber wenigstens hatte man den Motelmanager vernommen, einen geschwätzigen Mann namens Wheaton, der sich eifrig bemüht hatte, hilfreich zu sein, das transkribierte Vernehmungsprotokoll umfasste vier Seiten, einzeilig beschrieben.
Fauchet fing an zu lesen. Oriol, so der Manager, sei gegen sechs Uhr eingetroffen, habe um eine Restaurant-Empfehlung gebeten und sei dann in ein Diner auf der anderen Straßenseite gegangen. Gegen halb acht hatte Wheaton sie zurückkehren gesehen. Um acht war Oriol wieder an den Empfangstresen gekommen und hatte um einen Haartrockner gebeten. Dem Manager war nichts Außergewöhnliches aufgefallen – Oriol wirkte gut gelaunt und hatte en passant über ihren Verlobten gesprochen.
Am darauffolgenden Morgen wunderte er sich, dass sie so lange schlief. Er hatte gedacht, dass sie sich rasch wieder auf den Weg machen wollte. Aber er ließ sie bis mittags in Ruhe, als er schließlich das Zimmermädchen losschickte. Er hörte Schreie, lief hin und sah die Frau vom Deckenventilator hängen, nachdem sie offenbar einen unter ihr befindlichen Stuhl mit den Füßen umgestoßen hatte. Von da an hatte der Manager gar nicht wieder aufgehört zu reden, er beklagte die Tragödie und die Auswirkungen aufs Geschäft, sagte, dass so etwas noch nie in seinem Motel passiert sei, und warum habe die Frau noch um einen Haartrockner gebeten, bevor sie sich umbrachte, sein Motel sei ein respektabler Ort, und so weiter, fast endlos, bis der Beamte freundlich, aber gekonnt die Vernehmung beendete.
Aber es war eine gute Frage: Wieso um einen Haartrockner bitten, den man am folgenden Morgen benutzen wollte, und sich dann erhängen? Spontane Selbstmorde, das wusste Fauchet aus ihrem Medizinstudium, gingen fast immer mit Drogen- oder Alkoholkonsum einher. Aber im toxikologischen Gutachten stand, dass Oriol weder das eine noch das andere im Körper gehabt hatte.
Das Zimmermädchen war ebenfalls vernommen worden, das Vernehmungsprotokoll war nur eine halbe Seite lang. Fauchet las es durch – es war ein hysterisches Geplapper.
Sie setzte sich zurück, schürzte die Lippen. Hätte der Polizeibeamte doch nur daran gedacht, das Gästebuch des Motels zu kopieren, die Automarken und Nummernschilder zu notieren, dann würde sie wissen, ob derselbe Mercury Tracer mit dem Florida-Kennzeichen vor dem Motel gestanden hatte. Sie fragte sich, ob es das Motel wohl noch gab. Ein rascher Check bei Google ließ vermuten, dass es nicht mehr existierte.
Sie blätterte erneut in den Akten der anderen drei Mordfälle, die noch an der einen Ecke ihres Schreibtischs lagen: Baxter, Flayley, Adler. In keinem Fall hatte es einen Kriminalbeamten gegeben, der so gründlich ermittelt hatte wie in Bethesda. Es gab keine Listen mit Automodellen oder Nummernschildern. Aber warum sollten die auch vermerkt worden sein? Alle drei Morde wurden ja schließlich für Selbstmorde gehalten.
Doch sie besaß das Florida-Kennzeichen aus dem Motel, in dem Winters getötet wurde. Okay, jetzt war die Zeit gekommen, Pendergast anzurufen. Er würde keine zehn Sekunden benötigen, dann hätte er den Halter des Fahrzeugs ermittelt.
Sie wählte seine Nummer und wurde sofort auf die Mailbox umgeleitet. Sie rief Coldmoon an, und das Gleiche passierte. Dann wählte sie die Nummer des FBI in Miami und erfuhr, nachdem sie ziemlich oft weiterverbunden worden war, dass der genaue Aufenthaltsort der Agenten Pendergast und Coldmoon nicht bekannt sei, man jedoch glaube, dass sie auf einem Einsatz seien.
Sie legte ihr Telefon beiseite. Sie hatte einen Bruder, Morris, der bei der Florida Highway Control in Jacksonville arbeitete. Vielleicht konnte er ja nachsehen, zu wem das Nummernschild gehörte. Sie griff zum Telefon und wählte seine Nummer.
»Hallo, Schwesterherz«, ertönte die tiefe Stimme.
Fauchet atmete erleichtert aus. Sie erklärte, was sie wollte und warum. Nach längerem Schweigen sagte er: »Schwesterherz? Lass die FBI-Typen sich darum kümmern.«
»Hör mal, Morris –«
»Ich weiß, du warst als kleines Mädchen ein echter Fan von Harriet, die kleine Detektivin. Aber du bist Rechtsmedizinerin, kein Detective.«
Sie war geknickt. »Ich bekomme die ›FBI-Typen‹ nicht zu fassen.«
»Dann ruf das Morddezernat in Miami an.«
Sie wollte nicht, dass die sich die Information unter den Nagel rissen. Pendergast hatte die entscheidenden Teile des Puzzles zusammengesetzt. »Kannst du mir nicht einfach einen Namen nennen? Da draußen läuft ein Serienmörder frei herum, und er könnte jeden Moment erneut töten.«
»Umso mehr Grund, dass du das den Profis überlässt.« Ein langer Seufzer. »Ich liebe dich, Schwesterherz, aber es tut mir leid. Solche Arten von Checks sind heutzutage verboten, und du möchtest doch sicher nicht, dass man mich hinauswirft, oder?«
Sie gab ihm keine Antwort, wartete ab.
»Weißt du«, sagte er schließlich, fast widerstrebend, »gemäß dem Gesetz zur Informationsfreiheit hat heute jeder Bürger Floridas Zugang zu einem Teil der Kfz-Datenbank. Du kannst zwar nicht über das Nummernschild den Halter eines Autos ermitteln, aber du darfst nach Erwähnungen, Unfällen, Fällen von Trunkenheit am Steuer, Betrug, kriminellen Vorfällen recherchieren.«
Fauchet dankte ihm und verabschiedete sich. Dann legte sie das Telefon beiseite und dachte nach.
Nach Ithaca hörten die Morde auf. Pendergast hatte spekuliert, dass sie möglicherweise aufgehört hatten, weil der Killer – oder die Killer – gestorben war. Und Coldmoon hatte diese Annahme weiter ausgesponnen und sich die Frage gestellt, ob der Lehrling wohl seinen Meister ermordet hatte. Das war natürlich möglich. Aber es könnte genauso gut sein, dass irgendetwas anderes passiert war, dass irgendeine Art Unfall – beispielsweise ein Autounfall – die Mordserie beendet hatte.