»Canepatch liegt fast fünf Kilometer südwestlich von uns.«
Coldmoon zog sein Smartphone aus der Tasche, checkte das GPS. »Null Balken. War ja klar.«
»Deshalb haben wir die hier.« Mit einer peitschenartigen Handbewegung klappte Pendergast die Landkarte auf, sodass sie sich zu alarmierender Größe entfaltete. »Kurs hundertzehn Grad.«
»Wie soll ich das machen? Ich hab noch nie ein Boot gesteuert. Meine bevorzugte Fortbewegungsart ist das Reiten, und ein Pferd ist im Regelfall nicht mit GPS ausgestattet.«
Pendergast deutete auf einen kleinen Kompass, der in die Steuersäule eingebaut war. »Wenden Sie das Boot, bis es auf zehn nach zwei zeigt. Dann fahren Sie geradeaus.«
»Das hätte ich auch gewusst.« Coldmoon lenkte das Boot so lange, bis es in die richtige Richtung wies. Zwischen den Sumpfzypressen gab es mehrere Kanäle, und die Richtung, in die sie fuhren, war einigermaßen offen.
»Wie schnell fahren Sie?«, fragte Pendergast.
»Hm, dreizehn Stundenkilometer.«
»Außer im Fall irgendwelcher Hindernisse oder Verzögerungen, müssten wir in zwanzig Minuten in Canepatch ankommen.«
Das Wasser war ruhig, der Vortrieb des Boots erzeugte einen erfrischenden Fahrtwind. Allerdings war das Boot höllisch laut – noch lauter als der Shelby. Während er es zwischen den großen Bäumen hindurchsteuerte, versuchte Coldmoon, das Boot weiterhin in jene Richtung zu lenken, die der Kompass anzeigte. Hin und wieder kamen sie an kleinen Inseln vorbei, auf denen ausnahmslos ein, zwei Alligatoren lagen. Einmal war Coldmoon sicher, gesehen zu haben, wie sich eine Schlange durchs Wasser schlängelte.
Sie fuhren weiter zwischen den Mangroven hindurch, wobei der Lärm des Propellers jedes Gespräch so gut wie unmöglich machte. Über ihnen verband sich das Geäst seltsamer Bäume zu einem exotischen Blätterdach, das den Bayou in ein Halbdunkel tauchte. Coldmoon war es unmöglich, sich vorzustellen, dass jemand hier draußen lebte. Mehr noch: Je weiter sie fuhren, desto sicherer war er, dass hier tatsächlich niemand wohnte. Das gemietete Sumpfboot musste Fischern oder ähnlichen Leuten gehören. Der Gesuchte war entweder gestorben oder in die Zivilisation zurückgekehrt – wer konnte zehn Jahre lang hier draußen leben, ohne verrückt zu werden?
»Da wären wir«, sagte Pendergast. Vor ihnen, in dem düsteren Schatten, ragte, wie Coldmoon sah, eine Bootsanlage ins Wasser. Dahinter erhob sich fester Boden, und die Sumpfzypressen wichen einem Eichenwald über dichtem Farnbewuchs.
Während Coldmoon die Geschwindigkeit drosselte und das Boot längsseits an den Anlegesteg steuerte, sah er durch die aufragenden Bäume hindurch ein großes altes Holzhaus mit umlaufender Veranda auf einer Anhöhe. Das Haus war bemerkenswert heruntergekommen, wirkte aber trotzdem bewohnt. Coldmoon wusste nicht genau, wieso er das glaubte, denn man hörte kein Brummen eines Stromgenerators, sah keine gekräuselte Rauchfahne über dem Schornstein, keine Mini-Satellitenschüssel auf dem Dach des Gebäudes. So wie das alles aussah, hatten sich hier vielleicht Obdachlose einquartiert.
Ungeschickt steuerte er Richtung Anleger, sodass der Rumpf ziemlich heftig dagegen prallte. Pendergast sprang aus dem Boot und vertäute es an einem Pfosten, während Coldmoon den Motor ausschaltete.
»So viel zum Thema Überraschungsmoment«, sagte Coldmoon und zeigte mit dem Daumen auf die riesigen Propeller, die sich im Käfig hinter ihnen langsamer drehten.
Pendergast warf ihm einen kurzen Blick zu. »Ich lege keinen Wert darauf, die Art von Person zu überraschen, die beschlossen hat, hier draußen zu leben.«
Coldmoon tätschelte seine Jacke, dort, wo sich die Dienstwaffe befand. »Soll heißen, verrückter alter Kauz, der erst schießt und hinterher Fragen stellt?«
»Genau.«
»Und deshalb werden Sie mich vermutlich auch bitten, voranzugehen?«
Sie standen auf dem Anlegesteg und spähten Richtung Haus. Ein schmaler, sandiger Weg führte von der kleinen Lichtung durch den Farnbewuchs, über eine Holzbrücke und den Hügel hinauf. Auf der Brücke war ein Schild angebracht, das Pendergast nicht entziffern konnte.
Er legte die Hände an den Mund. »Halloo!«
Stille.
»Am Steg liegt kein Boot«, sagte Coldmoon. »Vielleicht ist keiner zu Hause.«
»Halloo!«, rief Pendergast noch einmal. »John Vance?«
Sie hörten eine leise Stimme, die irgendetwas sagte, das sie nicht verstehen konnten. Wieder blickte Coldmoon mit leicht zusammengekniffenen Augen zum Haus, aber dort war niemand zu sehen.
»Auf geht’s.« Sie liefen den Weg entlang und näherten sich der Brücke. Auf dem krude geschriebenen Schild stand:
Gefahr!!
Betreten verboten!
Pendergast blieb stehen und rief noch einmal. »FBI! Wir würden gerne raufkommen und Ihnen ein paar Fragen stellen!«
Die Stimme antwortete irgendetwas, hoch und eindringlich, war aber immer noch nicht zu verstehen.
Coldmoon blickte erneut auf das Schild. Hier gabelte sich der Trampelpfad, der eine Weg führte über die Brücke – die in der Tat verrottet und gefährlich aussah –, der andere schlängelte sich durch die Farnpflanzen.
Wieder ein Ruf von oben am Haus.
»War das ein Hilferuf?«, fragte Coldmoon.
»Es klang so.«
»Mr Vance?«, rief Coldmoon. »Brauchen Sie Hilfe?« Er drehte sich von der Brücke weg und ging den sandigen Pfad entlang.
»Gott sei Dank«, ließ sich eine matte Stimme vernehmen. »Helfen Sie mir – ich hab mich mit einer Kettensäge geschnitten.«
Die Stimme kam offenbar aus dem Haus, wegen der vielen Bäume war es allerdings schwer, sie genau zu lokalisieren. Coldmoon versuchte, durch das dichte Gestrüpp etwas zu erkennen. »Mensch! Ich sehe ihn! Ein weißhaariger Typ, er liegt auf der Veranda!«
»Bitte helfen Sie mir!«, ertönte die Stimme, die bereits schwächer klang. »Hilfe!«
»Jesses!« Coldmoon begann, schneller den Pfad entlangzugehen.
»Moment«, sagte Pendergast und hielt ihn zurück.
»Beeilen Sie sich, ich verblute!«
Coldmoon schüttelte Pendergasts Hand ab und fiel in Laufschritt.
»Warten Sie!«, rief Pendergast. »Wir wissen nicht –«
Aber er brachte den Satz nicht mehr zu Ende, und für Coldmoon war es eine fast surreale Erfahrung: die Art, wie die Farne sich unter ihm auftaten, der Boden wegsackte, und Pendergast und er verblüffend schnell in einen dunklen Abgrund stürzten.
43
Das Stadtviertel Golden Glades war rasterförmig angelegt, mit Ranchhäusern, die von ungepflegten Rasenflächen und kleinen Sandflächen umgeben waren. Schlaffe Fächerpalmen durchbrachen die gleichförmige Anordnung der Häuser. Mülleimer säumten die Straßen, grüne für den Hausmüll, blaue für Recycling-Stoffe – anscheinend kam heute die Müllabfuhr.
Fauchet hatte sich entschlossen, an dem Haus vorbeizufahren – mehr nicht –, um nachzusehen, ob jemand zu Hause war. Das konnte nicht schaden, und bestimmt war es auch ungefährlich. Vorbeifahren, die Lage peilen, dann Pendergast berichten, was sie herausgefunden hatte. Vorausgesetzt, sie konnte ihn überhaupt auf dem Handy erreichen.
Sie bog in den Tarpon Court, eine geschwungene Asphaltstraße, deren Anwohner offenbar weniger wohlhabend waren als die Nachbarn. Einige Häuser waren mit Brettern zugenagelt, die Fassaden anderer wiederum mit farbenfrohen Graffiti besprüht. Links stiegen die Hausnummern an: 119, 127, 165, 201. Schließlich die gesuchte Hausnummer: 203.