Als er sich umblickte, sah er erneut ein Augenpaar, das aus dem braunen Wasser hervorschaute, dann noch eins. Am Ende des Anlegestegs entstand ein Tumult: Der Alligator, den er erschossen hatte, wurde von seinen Artgenossen in Fetzen gerissen.
Das Wasser wurde tiefer, deshalb konnte er unter der Wasseroberfläche ungehindert schwimmen. Er packte das Extra-Magazin in seiner Anzugjacke und streifte sich das Jackett ab, peilte den nächsten Baum an, hielt die Luft an und tauchte unter. Dann schwamm er los, wobei er die Augen in dem trüben Wasser offen hielt. Größere Distanz, mehr schützende Bäume.
Inzwischen hatten die Schüsse aufgehört. Endlich war er zu weit in den Bäumen und zu weit entfernt, als dass der Schütze Kugeln verschwenden würde. Aber noch während er Luft holte, sah Pendergast eine kleine Welle. Wieder griff ein Alligator an, schnell unter der Wasseroberfläche schwimmend. Pendergast wappnete sich, hielt die Mündung der Waffe ins Wasser, und als er spürte, dass diese gegen etwas stieß, drückte er ab. Der Rückschlag riss ihm fast die Waffe aus der Hand, aber der Unterwasser-Schuss war erfolgreich. Das Reptil zuckte seitwärts, durchbrach die Wasseroberfläche, der Unterkiefer war teilweise weggerissen, dann fiel es zurück ins Wasser und ging in einer Wolke aus Blut unter.
Pendergast blieb im Wasser und begann, sich um die Insel vorzuarbeiten, sie in einer gewissen Entfernung zu umkreisen. Auf der anderen Seite ragte eine Landzunge ins Sumpfgebiet, sie bildete eine Art Lagune, an deren Spitze sich eine kleine Gruppe zerstörter Gebäude befand. Die Halbinsel war mit Elliott-Kiefern, Rohrkolben und Würgefeigen bestanden – dichtes Gestrüpp, das ausgezeichnete Deckung bot. Er arbeitete sich in Richtung Landzunge vor, wobei er den Kopf nur leicht über Wasser hielt und nicht nur auf Alligatoren, sondern auch auf Florida-Pumas achtgab, die in den Everglades vorkamen. Schüsse ertönten keine. Der Schütze musste seine Spur verloren haben.
Auf allen vieren kroch Pendergast zu einer schlammigen Uferböschung voller Mangroven. In geduckter Haltung lief er an der Wasserkante entlang, bis er die Landzunge erreichte. Er musste in Bewegung bleiben, seinen Gegner weiter im Unklaren lassen. Er verließ das Wasser und lief in geduckter Haltung durch das Unterholz. Dabei hielt er sich in den dichtesten Bereichen und achtete darauf, keinerlei Geräusch zu machen oder die Vegetation mehr als absolut nötig in Bewegung zu versetzen. Von Zeit zu Zeit konnte er die uralte Lodge so eben durch die Sumpfzypressen erkennen. Schließlich kamen die verfallenen Gebäude ins Blickfeld – Metallschuppen auf Stelzen über dem Wasser, ein Wellblechbootshaus, eine Sandbank, darauf verrostete 55-Gallonen-Fässer und kaputte Gerätschaften, zwei verrostete Flaschenzüge, der Rumpf eines alten Holzkahns. Und überall auf der Sandbank lagen Aberdutzende dicker Alligatoren, die sich dort zusammendrängten, wo die Sonne hinkam, ihre gepanzerten Rücken glänzten. Sie schienen zu schlafen, aber Pendergast wusste, dass das nur eine Jagdstrategie darstellte. Sie waren hellwach und warteten auf Beute.
Pendergast nahm das alles genau in Augenschein, samt den Pfosten im Wasser und dem rostigen Maschendraht, einst die Zuchtkäfige. Es handelte sich hier eindeutig um eine aufgelassene Alligatorenfarm. Die Ruinen boten zahlreiche Verstecke und Punkte für Hinterhalte, ein idealer Ort für einen Mann mit einer Handfeuerwaffe, der sich einem Gegner mit einem Gewehr gegenübersieht. Pendergast blieb in einem Schilfdickicht stehen und überdachte die Lage. Wenn er die Deckung jener Schuppen erreichen könnte, könnte er die Regeln des Kampfes ändern. Alles hing davon ab, ob der Schütze seine Spur tatsächlich verloren hatte oder auf Zeit spielte.
Pendergast stürmte aus der Deckung – die Schmerzen im verletzten Bein ignorierend – und spurtete über das offene Gelände auf den nächstgelegenen Schuppen zu. Sofort kamen Mündungsblitze aus einem der verfallenen Gebäude vor ihm. Pendergast warf sich auf den Boden, während die Kugeln sich auf allen Seiten in die Erde bohrten. Hektisch kriechend zog er sich in einen schlammigen Graben zurück, dann arbeitete er sich erneut bis zur Uferböschung vor und ließ sich ins Wasser gleiten. Dabei hielt er gerade so lange inne, dass er rasch noch einen Schuss auf die dunkle Öffnung des Schuppens abgeben konnte, aus dem die Schüsse gekommen waren.
Der Schütze hatte also seine Fährte doch nicht verloren. Mehr noch, er hatte vorausgesehen, was Pendergast tun würde, und bewegte sich aus seiner Scharfschützenstellung zu einem Punkt für einen Hinterhalt in der alten Alligatorenfarm.
Pendergast nutzte das Ufer als Schutz. Er bewegte sich durch das Wasser und kam um eine Biegung, wo eine umgestürzte Sumpfzypresse lag. Kurz oberhalb und dahinter befand sich der Schuppen, aus dem der Schütze gefeuert hatte. Mit äußerster Vorsicht hob Pendergast den Kopf und spähte zwischen Farnpflanzen hindurch. Zwischen den Schuppen nahm er eine Bewegung wahr: das Huschen einer laufenden Person. Er hob die Waffe, aber die Entfernung war zu groß, außerdem würde der Schuss nur seine Position verraten. Er sah, dass der Mann zu einem zentralen Punkt zwischen den zerstörten Schuppen gelaufen war. Offenkundig wollte er unbedingt verhindern, dass Pendergast einen Teil jenes Areals erreichte. Er war offensichtlich jemand, der sich auf der Insel auskannte. Und jeder taktische Schritt, den der Mann bisher unternommen hatte, ließ auf eine Tätigkeit beim Militär oder bei den Strafbehörden schließen. Das Gleiche wie bei John Vance.
Von seinem Aussichtsposten aus konnte Pendergast keinen Weg nach vorn erkennen. Die einzige Option war, zurück ins Wasser zu tauchen und die umgestürzte Sumpfzypresse als Deckung zu nutzen, weiter einen großen Bogen zu schlagen und einem neuen Denkansatz zu folgen. Inzwischen hatte er erkannt, mit was für einem Gegner er es zu tun hatte, deshalb standen seine Chancen nicht gut. Der Schütze ahnte, dass Pendergast ihn angreifen würde, wusste, dass er die Zeit auf seiner Seite hatte. Solange die Möglichkeit bestand, egal, wie gering, dass Coldmoon noch am Leben war, musste Pendergast sich mit dem Schützen befassen und zu dem Erdloch zurückkehren. Der Mann mit dem Gewehr wusste das genauso gut wie er.
Er schlich an dem umgestürzten Baum entlang und achtete darauf, auf der spiegelglatten Wasserfläche keine Wellen zu verursachen. Am Baumstamm angekommen, spähte er drum herum.
Es gab nur eine Möglichkeit, festzustellen, wo sich der Schütze derzeit aufhielt: ihn zu ermutigen, einen Schuss abzugeben. Was bedeutete, dass er sich selbst zeigen musste. Inzwischen war sich Pendergast ziemlich sicher – jedenfalls dem Klang des Gewehrs nach zu schließen –, dass der Mann eine Winchester 94 mit dem Kaliber .30-30 mit Zielfernrohr einsetzte. Das war ein ordentliches Jagdgewehr, aber auf keinen Fall eine Waffe für den taktischen Nahkampf.
Während Pendergast sich nach wie vor durch das Wasser vorarbeitete und dabei nach Alligatoren und Wassermokassinottern Ausschau hielt, hielt er auf eine besonders dichte Gruppe von Bäumen zu. Diese als Deckung nutzend, schlich er sich näher an das Durcheinander von Gebäuden heran, wobei er auf dem Grund entlangkroch und den Kopf möglichst weit unter Wasser hielt. Das wurde ein bisschen durch eine Reihe von Unterwasser-Zaunpfosten erleichtert, die mit dem Maschendraht verbunden waren.
Er arbeitete sich von dreihundert auf zweihundert Meter näher heran, bevor der nächste Schuss erklang, der diesmal einen Splitter aus einem Baumstamm neben Pendergasts Kopf riss. Das war eine nützliche Information. Jetzt wusste er, dass der Mann seine Stellung gewechselt hatte, in den über dem Wasser gebauten Hauptschuppen, und aus der Dunkelheit einer offenen Tür auf ihn schoss.
Mit äußerster Vorsicht kroch Pendergast weiter, bis er wieder fünfzig Meter zurückgelegt hatte. Die Schiebetür des Schuppens stand halb offen. Pendergast konnte nicht erkennen, wo sich der Schütze in der tiefen Dunkelheit dahinter positioniert hatte, und ihn nur dadurch lokalisieren, dass er einen Schuss provozierte: durch den damit einhergehenden Mündungsblitz. Selbst in diesem Fall war das Ziel immer noch zu weit entfernt, als dass seine Les Baer irgendetwas ausrichten konnte. Er musste auf fünfzig Meter herankommen, um einigermaßen sicher zu sein, dass der Schuss traf. Das Problem war: Bei einer Entfernung von fünfzig Metern, und wenn er mit seiner Les Baer gegen eine Winchester antreten müsste, wäre er so gut wie tot.