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Die Logik der Situation war entsetzlich simpel. Solange die Möglichkeit bestand, dass Coldmoon noch lebte, konnte Pendergast die Insel nicht verlassen. Selbst wenn er versuchte, in den Sumpf davonzuschwimmen, würde der Schütze, wer immer es war, ganz bestimmt irgendwo ein zweites Boot – vermutlich im Bootshaus oder in einem der nahe gelegenen Schuppen – einsetzen, um ihn damit zur Strecke zu bringen. Und wenn der Schütze das versuchte, war außerdem wahrscheinlich, dass die Alligatoren Pendergast erwischten, lange bevor eine Kugel das erledigte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den Schützen unschädlich zu machen, hier und jetzt.

Aus der Dunkelheit hinter der Schiebetür wurde irgendetwas herausgeworfen und landete ein, zwei Sekunden später im Wasser. Zunächst konnte Pendergast nicht erkennen, worum es sich dabei handelte. Aber die entlang des Ufers liegenden Alligatoren hatten es erkannt, blitzartig waren sie im Wasser, ein jähes Aufwallen um die Stelle herum, wo das Ding im Wasser gelandet war – sie schlugen wild um sich und kämpften darum, mit peitschenden Schwänzen und zuschnappenden Kiefern.

Sie rangelten sich um ein Stück Fleisch.

Noch ein Fleischstück wurde ins Wasser geworfen, wieder löste der Spritzer einen Fressrausch aus, und noch mehr von den Viechern glitten ins Wasser. Als der dritte Wurf kam, schoss Pendergast ins Dunkel des Schuppens – daraufhin wurde das Feuer erwidert, was ihn abermals zurück hinter einen mächtigen Zypressenstumpf trieb.

Das war eine neue Strategie. Inzwischen mussten wohl hundert Tiere im Wasser sein. Die Fleischstücke waren verzehrt worden, deshalb schwärmten die Reptilien aus, erweckt aus ihrer Starre und nach mehr gierend. Pendergast sah das Gekräusel und Gestrudel an der Wasseroberfläche, die kleinen Wellen deuteten auf die Bewegungen darunter hin. Einige Wellen hielten auf ihn zu. Er stellte sich hinter den Baumstumpf, ein Wurzelgeflecht, das in einem Holzknubbel endete. Dort ging er in die Hocke, in der Hoffnung, dass die hungrigen Tiere ihn nicht bemerken, nicht das Blut riechen würden, das aus seiner Schusswunde sickerte. Wenn er vor den sich nähernden Horden zu fliehen versuchte, würde er sie durch seine Bewegungen im Wasser nur auf sich aufmerksam machen.

Pendergast ließ das leere Magazin aus der Les Baer herausschnappen und schob das Ersatzmagazin hinein. Und dann presste er sich gegen den Baumstumpf, schob die Beine in das Wurzelgeflecht und verhielt sich völlig still. Er konnte die verschwommenen Umrisse der Alligatoren erkennen, sie bewegten sich hin und her wie riesige Aale. Ein Kopf tauchte auf, nur die Nasenlöcher und die Augen, dann noch ein Kopf, bis die Tiere überall zu sein schienen, hungrig umherspähend.

Er drückte sich weiterhin an den Baumstamm, mit einem Schützen auf der anderen Seite des Wassers und den Alligatoren ringsum.

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Pendergast sah den Wasserstrudel und spürte, wie das Tier seine Beine streifte, nur Sekunden, bevor es innehielt, um anzugreifen. Er packte einen Knubbel am Wurzelgeflecht der Sumpfzypresse und zog sich aus dem Wasser, gerade als der Alligator vorschnellte. Der erwischte die Spitze von Pendergasts Schuh, glitt aber, weil er den nicht festhalten konnte, zurück ins Wasser. Ein anderes Viech stürzte vor, sein Kiefer klappte zu wie eine stählerne Falle. Pendergast zog sich weiter aus dem Wasser und versuchte, dem zuschnappenden Maul auszuweichen und gleichzeitig in Deckung zu bleiben. Doch wieder sprang ein Alligator hoch, dem er aus nächster Nähe in den Hals schoss. Der Alligator fiel nach hinten, wild um sich schlagend, die Augen immer noch offen, das Blut breitete sich in dem dunklen Wasser aus. Unter Pendergast wirbelte das Wasser, während weitere Alligatoren sich um die besten Plätze drängelten. Wenn er den Baumstumpf noch höher kroch, würde er sich dem Schützen zeigen, aber wenn er blieb, wo er war, konnte er der Reichweite der Alligatoren nicht ausweichen. Er erschoss noch einen, der aus dem Wasser hervorschnellte, um sein Bein zu packen, dann noch einen – eine unvermeidliche Vergeudung von Munition wie auch eine zum Scheitern verurteilte Strategie, da die erschossenen Tiere den Fressrausch ja nur noch steigerten. Das wilde Um-sich-Schlagen breitete sich weiter aus, während sich die lebenden Alligatoren über die sterbenden hermachten und dabei Eingeweide und Körperteile im Wasser verteilten. Pendergast, der sich unsicher am Wurzelgeflecht festklammerte, war sich im Klaren darüber, dass er nicht alle Alligatoren erschießen konnte. Aber er konnte auch nicht höherklettern und nicht heruntersteigen.

Während er über seine Lage nachdachte, hörte er ein Dröhnen, das er eine Sekunde später erkannte. Da wurde ein Propellerboot gestartet. Als er um den Baum herumspähte, sah er das Boot aus dem Dunkel eines entfernt gelegenen Schuppens auftauchen, eine Gestalt am Steuer. Es fuhr in Schlangenlinien zwischen den Bäumen – Pendergast schoss sofort darauf, auch wenn es weit außer Schussweite war und sehr schnell fuhr.

Er versuchte, sich um die Seite des Baumstumpfs zu bewegen, aber ein Alligator biss in seinen ruinierten Schuh und riss ihn fast ab. Während das Boot kreiste, war Pendergast vollständig ungeschützt, außerstande, sich zu bewegen, unfähig, in Deckung zu gehen.

Das Boot verlangsamte die Geschwindigkeit und kam auf der anderen Seite der offenen Wasserfläche zum Stehen. Der Mann am Steuer befand sich im Schatten, zweihundert Meter entfernt.

Obwohl er weit außer Schussweite war, zielte Pendergast sorgfältig und drückte ab. Eine Wasserfontäne spritzte zehn Meter vor dem Boot auf, weit daneben.

»Agent Pendergast«, ertönte eine Stimme über das Wasser hinweg. »Sie verschwenden bloß Ihre Munition und ziehen nur noch mehr Alligatoren an.«

Pendergast erkannte zu seiner riesengroßen Überraschung die Stimme von Commander Grove, des externen Verbindungsbeamten der Polizei Miami.

»Das ist ja eine schicke Pistole, die Sie da haben, aber Wunder kann die auch nicht bewirken.« Grove hielt inne. »Aber machen Sie ruhig weiter. Geben Sie Ihr Bestes.« Grove breitete die Arme aus, hielt dabei das Gewehr zur Seite.

Pendergast zielte auf den Motor und verschoss seine beiden letzten Kugeln, wobei er mit dem zweiten Schuss etwas wartete, damit er ihn korrigieren konnte. Vier Meter zur Rechten spritzte es auf; sehr viel näher, nur einen Meter, die zweite kleine Fontäne. Aber nicht nahe genug. Pendergast schoss noch einmal, aber der Hammer fiel auf eine leere Kammer, so wie er es gewusst hatte.

»Beeindruckende Schießkunst unter den Umständen. Trotzdem, Sie sind ein Optimist, aber in dieser verrückten Welt sterben die Optimisten.« Der Bootsmotor drehte hoch, langsam fuhr das Propellerboot auf Pendergast zu. »Ich hab durchs Fernglas gesehen, wie Sie Ihre Back-up-Waffe verloren haben, und darauf gesetzt, dass Sie für Ihre Les Baer kein drittes Magazin dabeihaben. Diese Sieben-Schuss-Magazine sind schwer, und ich kenne keinen FBI-Agenten, der mehr als ein Ersatzmagazin bei sich trägt. Ich meine, wenn Sie die Sache nicht mit fünfzehn Schuss erledigen können, ist das doch ziemlich schwach. Was für eine Art Agent führt denn ein drittes Magazin mit sich?« Grove lachte.

Während er so redete, setzte Pendergast die fehlenden Puzzleteile zusammen – die wahren fehlenden Teile. Das Bild, das sie formten, war in der Tat deprimierend. Er dachte kurz über seine Optionen nach. Entweder in dieses Meer aus Alligatoren springen oder darauf warten, erschossen zu werden. Das Wasser wimmelte immer noch von den erregten Reptilien, wieder schnappte eines nach ihm, und Pendergast schlug ihm mit dem Knauf seiner leeren Waffe auf die Schnauze. Es gab keine Möglichkeit mehr, und es hatte auch keinen Sinn mehr, weiter in Deckung bleiben zu wollen.