Im Haus ertönte ein leises Glockenspiel. Zehn Sekunden später hörte man leise Schritte, die sich näherten. Die Tür ging auf, und vor Pendergast stand ein älterer Mann. Er war beinahe so groß wie Pendergast und trug ein frisches Polo-Hemd und Bermudashorts. Das dünne blonde Haar war quer über die von der Sonne gebräunte Glatze gekämmt. Er sah Pendergast fragend an.
»Guten Morgen. Harold Baxter, nehme ich an?«
»Was kann ich für Sie tun?«
»Mein Name ist Special Agent Pendergast, FBI.« Er zückte seinen Ausweis und zeigte ihn dem Mann. »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich in Ihre Privatsphäre eindringe, aber könnten Sie mir einige wenige Minuten Ihrer Zeit schenken?«
Der Mann blinzelte nervös. »Die Polizei war bereits gestern Nachmittag hier.«
»Ja, das kann ich mir denken. Ich verspreche Ihnen, nicht so lange zu bleiben.«
»Na gut. Kommen Sie rein.« Baxter trat beiseite, während Pendergast die Fliegengittertür öffnete und das Haus betrat.
Der Mann führte ihn durch ein Wohnzimmer und ein Esszimmer – beide picobello sauber und ein wenig nach Mottenkugeln riechend – auf die Terrasse auf der Rückseite des Hauses. Mehrere Klappstühle mit Kissen standen um einen Glastisch. Mit einer Handbewegung bat Baxter Pendergast, auf einem Platz zu nehmen. Während Pendergast sich setzte, erschien eine Frau ähnlich fortgeschrittenen Alters mit einem Geschirrtuch in der Hand in der offenen Schiebetür.
»Harold?«, fragte sie, auch wenn ihr Blick auf Pendergast ruhte. »Ist das etwa –?«
Doch Pendergast war schon wieder aufgestanden und ging zu ihr. »Mrs Baxter? Mein Name ist Pendergast, ich komme vom FBI. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mich mit Ihnen und Ihrem Mann kurz unterhielte?«
»Na ja … nein, wenn Sie möchten.« Die Frau ging zu einem der Klappstühle, dabei fiel ihr das Abtrockentuch in ihrer Hand ein. Sie legte es ordentlich über den Stuhlrücken und setzte sich.
Pendergast sah abwechselnd den alten Mann und die alte Frau an. »Zunächst einmal möchte ich Ihnen danken. Ich weiß, das hier ist schwierig für Sie, und ich bin der Letzte, der alte Wunden aufreißen möchte. Deshalb wäre es vielleicht das Beste, wenn Sie mir erzählten, wie viel Sie über die Angelegenheit wissen, derentwegen die Detectives gestern hier waren.«
Baxter warf seiner Frau einen kurzen Blick zu. »Die haben nicht viel gesagt. Haben hauptsächlich Fragen gestellt. Es hatte mit irgendeinem … Ding zu tun, das auf Elises Grab gefunden wurde.«
Pendergast nickte – Baxter sollte fortfahren.
»Außerdem wollten sie wissen, ob wir die Frau kennen, die gestern ermordet wurde, Miss … Miss …« Wieder sah er zu seiner Frau.
»Montera. Felice Montera.«
»Verstehe«, sagte Pendergast in besonders einfühlsamem Ton. »Und darf ich fragen, was Sie den Detectives darauf geantwortet haben?«
»Wir haben gesagt, dass Elise, soweit wir wissen, die bedauernswerte Frau weder kannte noch von ihr gehört hat. Wir kennen sie gewiss nicht. Sicherlich, Elise hat viele Leute getroffen, aber sie hat uns immer von ihnen erzählt. Jeden Abend nach dem Essen hat sie uns berichtet, was sie am Tag getan hat …« Der Mund der alten Frau zuckte. Unbewusst griff sie nach dem Geschirrtuch.
»Ihre Tochter hat also bei Ihnen gewohnt?«
Der Mann nickte. »Es war bequem für sie. Sie hat ganz in der Nähe gearbeitet, in Coral Gables. Elise hatte für eine eigene Wohnung gespart, aber sie war ziemlich wählerisch – was ja nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, in welcher Branche sie tätig war.«
»Und was für eine Branche war das?«
»Sie war Immobilienmaklerin. Und angesichts ihres Alters eine sehr vielversprechende dazu. Auf der Überholspur.«
Die Mutter tupfte sich mit dem Geschirrtuch ein Auge trocken. »Die Polizei hat uns gestern bereits alle diese Fragen gestellt.«
»Entschuldigen Sie bitte, ich will versuchen, mich kurzzufassen. Wenn ich recht informiert bin, ist Ihre Tochter in Katahdin, Maine, verstorben.«
Stille. Dann nickte Mrs Baxter.
»Hatte sie Verwandte dort oben? Freunde?«
»Nein«, sagte der Vater. »Sie hat an einer Tagung teilgenommen, von Sun and Shore – die Immobilienfirma, bei der sie beschäftigt war. Im Grunde ein Kurzurlaub, eine Belohnung für die Mitarbeiter mit den besten Verkaufszahlen.«
»Sun and Shore Realty hat Büros in ganz Florida«, fügte die Frau hinzu und faltete wieder das Geschirrtuch.
»Und hatte Elise zu dem Zeitpunkt jemanden, der ihr nahestand? Einen Freund beispielsweise?«
Der Vater nickte. »Matt. Ein guter Junge. Er war bei der Marine, U-Boot-Matrose – zumindest war er das damals. Hat guten alten Rock gemocht.«
»Wissen Sie, ob die beiden vor ihrem Tod Streit hatten?«
»Sie haben sich prima verstanden. Matt hat sie immer besucht, wenn er dienstfrei hatte. Als die Sache passiert ist, befand er sich mitten in einem zweimonatigen Kriegseinsatz.«
»Und Sie sagen, dass Ihre Tochter mit ihrer Arbeit zufrieden war?«
»Der Beruf ging ihr über alles. Außer uns natürlich. Und … Matt.«
»Würden Sie Ihre Tochter generell als optimistische Person bezeichnen?«
»Sie brauchen gar nicht weiter zu fragen«, sagte Mr Baxter. »Die Polizisten wollten das Gleiche wissen, und ich möchte Ihnen deshalb nicht die Zeit stehlen. Wenn unsere Lizzy unglücklich war, dann war sie eine verdammt gute Schauspielerin. Sie hatten einen Beruf. Einen Freund. Noch im Monat zuvor hatte sie einen Kurs für persönliche Sicherheit absolviert. Sie wissen schon, Selbstverteidigung, Abwehr von Stalkern und dergleichen. Wieso sollte jemand, der die Absicht hat, seinem Leben ein Ende zu setzen, so einen Kursus belegen?« Er schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn.«
»Ich verstehe Sie – so muss es von außen betrachtet ausgesehen haben. Und wegen ihrer Sinnlosigkeit muss die ganze Sache für Sie umso schwerer zu verkraften sein.« Pendergast hielt inne. »Nur eine Frage noch. Sie sagten, dass Elise bei Ihnen gewohnt hat. Ist ihr Zimmer im Moment belegt?«
Das ältere Ehepaar wechselte einen Blick, dann schüttelte der Mann den Kopf.
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich es mir einmal kurz anschaue?«
Kurze Stille. Dann erhob sich Harold Baxter. »Ich zeige Ihnen den Weg.«
Während die drei die Treppe hinaufstiegen, ertönte draußen plötzlich Kindergeschrei. »Das Viertel verändert sich«, sagte Baxter. »Es ziehen viele junge Leute her. Meine Frau und ich haben uns schon oft darüber unterhalten, aber wir haben einfach nicht den Mut wegzuziehen … aus diesem Haus auszuziehen.«
Auf halber Strecke des Flurs im ersten Stock blieb er stehen, öffnete eine Tür und deutete in das Zimmer. »Wir haben nichts verändert.«
Pendergast ging hinein. Ein heller, freundlicher Raum, kanariengelb gestrichen, darin ein Himmelbett und helle Holzmöbel. An den Wänden zwei Aquarelle, darstellend Strandszenen, auf der Kommode ein paar Fotos in Rahmen. Während er sich umschaute, fiel ihm auf, dass die Mutter der Toten in der Tür stehen geblieben war.
Er drehte sich zu den beiden um und sagte: »Haben Sie freundlichsten Dank. Es dauert nur eine Minute.«
Während der Ehemann nach unten ging, zeigte Mrs Baxter auf einen Beweismittelbeutel, der auf dem Nachttisch lag. »Das sind die persönlichen Dinge, die man uns zurückgegeben hat, nachdem Lizzy … aus Maine. Die Polizei hat gestern darum gebeten, sie sich einmal anschauen zu dürfen. Ich nehme an, die Beamten haben sie auf dem Nachttisch liegen lassen.«
Pendergast ging hin und nahm sich den Beutel, darin ein Portemonnaie aus Leder, ein Ring aus geflochtenem Silber sowie eine Goldkette mit einem Medaillon, darstellend einen christlichen Heiligen mit einem Hirtenstab in der Hand.