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… Hat er gerade Erpressung gesagt?

Sie sieht ihn nicht an, während er erzählt. Sieht auf den Flieder und die Birke ganz links in der äußersten Ecke des Grundstücks, um deren Stamm herum das Gras ausgedünnt und von bräunlicher Farbe ist. Was er ihr zu sagen hat, ergibt keinen Sinn. Sie spürt seinen Blick auf ihrem Gesicht. Es gibt eine Abmachung, der zufolge ein Treffen vorher am Telefon vereinbart wird; kein plötzliches Hereinplatzen, An-der-Tür-Klingeln, Im-Garten-Stehen, sie hat darum gebeten, er hat es akzeptiert, und nun steht er da und erzählt von jemandem, den er ausgerechnet Daniel nennt und der sich in seiner Schule aufführt wie ein Mafioso. Zum Glück trägt sie keine Schürze, sie hasst Schürzen, aber unter seinem Blick ist es, als trüge sie doch eine. Sie will das nicht hören, es ist ihr Geburtstag, und sie will auch diesen Blick nicht auf ihrem Gesicht. Ungeduldig überlegt sie, ob der Herd ausgestellt ist, ob das Nudelwasser schon kocht. Wieso erzählt er ihr das alles?

Sie möchte sich auf seine Worte konzentrieren, aber es ist, als stünde sie am Rand einer Autobahn und versuchte, die Autos zu erkennen, die an ihr vorbeirasen.

«Ich komm nicht mit«, hört sie sich sagen.»Was ist das für eine Geschichte? Was soll das?«

Er hält inne, und sie will verhindern, dass er weiterspricht.

«Wer hat sich das ausgedacht? Du kannst nicht einfach am Montagmorgen hier reinplatzen und mir solche Geschichten erzählen.«

«Ich hab den Montagmorgen bei Granitzny verbracht — hatte ich auch nicht drum gebeten.«

«Wieso haben die mir nicht Bescheid gesagt?«Es gibt da ein paar Dinge, die geklärt werden müssen, bevor sie die Geschichte glaubt.

«Weiß ich nicht. Sie haben gefragt, Granitzny hat gefragt, ob er dir Bescheid sagen soll oder ob ich das übernehme. Wahrscheinlich wird auch der Klassenlehrer …«

«Haben sie dich gefragt.«

«Hättest du’s lieber von ihm erfahren?«

«Hast du ihn geschlagen?«Das Einzige, was sie ihm entgegenzusetzen hat.

«Ja.«

«Warum?«

«Aus Wut, nehm ich an. Aus Enttäuschung. Empörung. «Auf seiner Stirn glitzern Schweißperlen. Da ist nicht der Hauch einer Einladung zu Streit und Widerrede in seinen Worten, und beinahe wäre sie nach vorne getaumelt, hinein in dieses Fehlen von Aggressivität. Sie fragt sich, ob er am Morgen Sex gehabt hat mit seiner viel zu jungen Frau. Zwei Meter entfernt von ihr steht er in der Sonne. Seine Gefasstheit ist unerträglich. Er hat die Geschichte erzählt wie einen Bericht aus der Zeitung, hat gesagt: Wut — als hätte jemand gefragt: Emotionaler Zustand mit drei Buchstaben?

«Tu das nie wieder«, sagt sie.

«Kerstin, ich war genauso geschockt wie du. Unser Sohn ist ein … jedenfalls war er an einer gemeinen Erpressung beteiligt.«

«Hast du ihn gefragt, was passiert ist? Hast du dir seine Geschichte angehört oder ihn einfach …?«

«Er sagt nichts. Versuch du es. Er sagt mir ins Gesicht: Ich erklär’s dir nicht.«

Am liebsten würde sie ihm befehlen, sich umzudrehen und zur Straße zu blicken. Sie hört die Zimmertür ihrer Mutter und greift mit einer Hand hinter sich, um die Haustür weiter zuzuziehen.

Er steht reglos, die Hände in den Hosentaschen, schickt einen Blick zur Hausecke.

«Haben die das mit den Leitungen hingekriegt, unterm Haus?«

«Einigermaßen. «Sie weiß nicht wohin mit den Augen, sieht zur Straße und bemerkt zum ersten Mal, dass er ein neues Auto hat. Das zweite in drei Jahren. Sportlich und trotzdem groß, mit offenem Verdeck. Die Art von Auto, mit der man eine Midlife-Crisis bekämpft, bevor sie sich einstellt.

«Und jetzt?«, fragt sie.

«Ich will, dass er im Lauf der Woche an einem Nachmittag bei mir vorbeikommt. Erstens will ich mit ihm reden, und zweitens: Ich will, dass er sich bei Tommy Endler entschuldigt, persönlich, ich will, dass er rübergeht und sich entschuldigt.«

«Weißt du, was das für ihn bedeutet?«

«Es bedeutet, dass er Verantwortung für sein Tun übernimmt. Ich wohne mit Endlers Haus an Haus, wie soll das gehen mit so einer Sache.«

«Es geht also nicht um Verantwortung, sondern um gute Nachbarschaft. Und seit wann fährst du solche Angeberschlitten?«

Ein Verdrehen der Augen ist darauf seine einzige Antwort. Also muss sie weitersprechen.

«Sieht so aus, als hätte sich dein durchschnittliches Monatseinkommen in den letzten drei Jahren …«Mit dem Kinn zeigt sie zur Straße.»Es waren doch drei Jahre, oder? Seit der letzten Überprüfung.«

Jürgen schüttelt schweigend den Kopf.

Das Quietschen orthopädischer Schuhe entfernt sich Richtung Bad, so wie sie es am Morgen gehört hat, vom Bett aus, im bläulichen Dämmerlicht, das nicht verraten hat, was für ein Tag das werden wird. Und vielleicht weiß sie es jetzt immer noch nicht, kurz vor Mittag, im Schatten des Vordachs, vielleicht wird am Abend ein Zettel auf Daniels Bett liegen, Bin abgehauen, und sie muss mit der Polizei telefonieren und erklären, wann sie ihn zuletzt gesehen hat. Der Tag hat einen Sprung bekommen, und vielleicht wird am Abend alles in Scherben liegen, alles. Und sie macht dumme Sprüche über Autos.

«Ich rede mit ihm.«

«Mit wem?«

«Mit Daniel natürlich. Endlers sind dein Problem.«

«Sag mir Bescheid, wenn du mit ihm gesprochen hast. Oder falls du vom Klassenlehrer noch Informationen bekommst. Du kannst mich jederzeit …«

«Jürgen, bitte. Ich werde dich nicht jederzeit anrufen.«

«Weißt du, mit diesem ›mein Problem, dein Problem‹ werden wir nicht weit kommen. Wenn es hier um Verantwortung geht, dann auch um unsere. «Da steht er, der Anwalt der Rationalität, mehrfach dekorierter Verfechter von Maß und Besonnenheit, patentierter Erfinder der nüchternen Analyse. Sonnt sich in Selbstlosigkeit. Hielte sie in diesem Moment was in den Händen, sie würde es ihm an den Kopf schleudern. Aber sie hat nur Worte.

«Unsere, ja. Also auch um deine, oder? Sei ehrlich, du willst mir doch nicht erzählen, dass du immer noch … Was hast du damals angegeben? Dreitausendfünfhundert Euro, knapp. Du willst mir doch nicht erzählen, das sei dein aktuelles Monatseinkommen.«

«Willst du das jetzt wirklich besprechen?«

«Wo du schon mal da bist. «Eigentlich will sie nichts weniger als das jetzt besprechen, aber warum kommt er mit seinem neuen Wagen bei ihr vorgefahren und erzählt ihr diese Geschichten? An einem Tag, an dem sie sich ihrer Situation zu bewusst ist, als dass sie auch noch mit anderen Krisen umgehen könnte. Wie soll sie sich da gegen ihn wehren? Und im Übrigen betrügt er sie wirklich um Unterhaltsleistungen, frech und offen, und brüstet sich damit wahrscheinlich auch noch vor seiner …

«Okay«, sagt er leise.»Ich hatte das nicht vor, aber wenn du willst. Wir werden das in der Tat neu berechnen müssen, bloß … zwei Dinge. «Und für den Fall, dass sie nicht bis zwei zählen kann, hilft er ihr mit der entsprechenden Anzahl erhobener Finger.»Erstens gab es eine Reform des Unterhaltsrechts, hast du vielleicht gehört. Sie ist noch nicht in Kraft, wurde aber letzten Monat im Kabinett beschlossen. Darin werden sogenannte Zweitfamilien finanziell gestärkt, das heißt Familiengründungen nach der Scheidung, insbesondere die Versorgung von Kindern, die daraus hervorgehen.«

«Du hast …«, setzt sie an und setzt wieder ab. Sieht den nächsten Satz kommen, bevor er ihn ausspricht.

«Zweitens, Andrea ist schwanger.«

Er schaut sie an dabei, und sie schafft es nicht, rechtzeitig seinem Blick auszuweichen. Für einen Moment ist sie erstaunt, wie wenig es weh tut. Sie krümmt sich gar nicht oder stöhnt auf, sondern steht gegen den Türrahmen gelehnt und fröstelt höchstens ein wenig, da wo ihre Schulter die Wand berührt. Jürgen schürzt die Lippen. Seinerseits ist das Wichtigste gesagt. Alles Weitere werden die Anwälte besprechen, das heißt ihr Anwalt, denn er ist ja selbst einer, wie praktisch, er hat das auch sicherlich schon mal durchgerechnet. Und ›Zweitfamilie‹ ist ein schönes Wort. Die, mit der man sein Glück versucht, nachdem die Erstfamilie in ihre Einzelteile zerbrochen ist. Man verlässt sich ja auch nicht mehr alleine auf die staatliche Rente. Sie schmeckt ihren eigenen Sarkasmus gallig in der Kehle und stellt fest, dass das Netz mit ihren Erinnerungen längst gerissen ist; Früchte rollen über den Boden, sie steht mit leeren Händen da und muss den Blick oben halten, notfalls in die Richtung, in der er steht.