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Er müsste sich beeilen, aber er tut es nicht. Kerstin steht jetzt in der Küche und weiß längst, dass es Unsinn war, ihn um diese Zeit noch loszuschicken. Wenn er nach Hause kommt, wird ihr Ärger schon zur Hälfte ihr selbst gelten. Man müsste einmal innehalten, denkt er, gar nichts tun und gemeinsam dem eigenen Leben zuschauen, als wäre es ein Film über Eingeborenenrituale in Papua-Neuguinea. Wer könnte sich dann noch ernst genug nehmen, um über Paprika zu streiten?

Trotz der Hitze streift er sich auf dem Weg zu den Einkaufswagen das Jackett über und sucht in der Tasche nach einem Euro. ›Wir wünschen allen Bergenstädterinnen und Bergenstädtern ein frohes Grenzgangsfest‹, steht auf einem langen Banner über dem Eingang. Weidmann betritt den Supermarkt und ist augenblicklich abgestoßen von der verbrauchten Luft, der seichten Musik im Hintergrund und von seinen watschelnden Mitbürgern. Nackte, bleiche Waden. Spaghetti-Träger über Nilpferd-Schultern. Sein Widerwille hat aber nicht mehr den gleichen Schwung wie früher, und was Kerstin ihm gerne als Arroganz auslegt, ist in Wahrheit nur das Wissen, dass sein Zynismus zahnlos geworden ist — da muss man aufpassen, wonach man schnappt. Er parkt den Wagen neben der Gemüsewaage, zieht den Einkaufszettel aus der Tasche und muss ihn ein wenig vor dem Gesicht navigieren, weil er die Brille nicht dabeihat. Paprika natürlich, in Klammern: rot oder gelb. Mag Natalie so gern. Kein Wunder, dass Kerstin bei der kleinsten Abweichung von ihren Planungen außer sich gerät, wenn sie sich vorgenommen hat, die Kontingenz des Lebens auf deren eigenem Platz zu schlagen. Er sagt immer: Wer nichts dem Zufall überlassen will, darf morgens nicht aufstehen.

Hahaha. Er sagt ja auch, dass es nicht sein Alter ist, womit er Probleme hat, sondern sein Ego. Der Punkt ist: Er sagt das zwar, aber er meint es nicht so, schon lange nicht mehr. Seine Tiraden gegen das Spießertum, pardon Bürgertum, gegen die satte Selbstzufriedenheit auf intellektuell subterranem Niveau — ironische Tributzahlungen sind das an den, der er mal war, oder den, der er hätte werden können oder gerne geworden wäre und der ihm nun als unsichtbarer Begleiter durch sein Leben folgt mit hochgezogenen Mundwinkeln und einem Gesichtsausdruck, wie Kamphaus ihn früher im Kolloqium hatte: wenn jemand sich bemühte, es aber nicht so richtig hinbekam. Eine solche nachsichtige Überlegenheit begegnet ihm jetzt manchmal, wenn er in den Spiegel sieht, und dann sagt er bestimmte Dinge, nicht um Kerstin zu verletzen, sondern damit sie gesagt sind, ausgesprochen, raus aus der Flasche und Korken wieder drauf.

Seine Frau versteht das nicht: Skepsis gegenüber dem eigenen Wohlbefinden. Dass er mit ihr nur glücklich sein kann, wenn er dieses Glück von Zeit zu Zeit ein bisschen durch den Kakao zieht. Rein verbal! Dass nur Spießer einfach so mit ihrem Leben zufrieden sind.

«Meditation mit Paprika?«

Er wendet den Kopf und sieht in Karin Preiss’ spöttisches Gesicht. Deutlich kleiner als er, schaut sie ihn von unten herauf an, deutet mit dem Kinn auf das Gemüse in seinen Händen und scheint eine Erklärung zu erwarten. Wie immer ist sie stark geschminkt, und in letzter Zeit, scheint ihm, vertut sie sich manchmal mit den Farben, kleidet sich etwas zu grell, eine Spur zu gewagt. Ihr Brustansatz deutlich sichtbar im Ausschnitt der Bluse. Ein goldenes Kettchen ums nackte Fußgelenk. Mit einem Schulterzucken legt er die Paprikas in seinen Wagen und sagt:

«Alterserscheinung. Irgendwann gibt’s nichts mehr, worüber man sich nicht wundern könnte.«

«Geht mir auch so. «Karin nickt und scheint nicht zu bemerken, dass die Rollen ihres Einkaufswagens ihm gegen die Schuhe drücken. Mit den Unterarmen lehnt sie auf dem Griff des Wagens.»Und jetzt gerade habe ich ein heftiges Déjà-vu.«

«Nämlich?«

«Weiß ich nicht, fällt mir nicht ein. «Mit großen Augen und geradezu aufdringlich sieht sie ihm ins Gesicht.»Ist das auch eine Alterserscheinung?«

«Keine Ahnung, vielleicht ist nicht alles, was im Alter erscheint automatisch eine Alterserscheinung.«

«Findest du, dass wir alt sind?«

«Sagen wir: älter.«

«Ist keine Antwort. «Sie hält den Blick, wo er ist. Kerstin sagt immer: Dezenz war ja nie ihre Stärke. Die beiden arbeiten zusammen und verstehen sich gut, aber zumindest auf Kerstins Seite bleibt eine Reserve, die sich in solchen Bemerkungen ausspricht, und wenn er nach den Gründen fragt, bekommt er zwei Mal gar nichts und beim dritten Mal zur Antwort: Sie würde keine Sekunde zögern, mit dir was anzufangen.

Eine grundlose Unterstellung, die er rein gefühlsmäßig für zutreffend hält.

«Dann weiß ich keine. «Er würde jetzt gerne auf seinen Einkaufszettel sehen und, falls sein Job in der Gemüseabteilung erledigt ist, weitergehen, aber unter Beobachtung ist es ihm peinlich, den Zettel auf Armeslänge von sich zu halten. Außerdem blockiert Karins Einkaufswagen seinen Weg.

«Feigling. Siehst du irgendwo Broccoli?«, fragt sie.

«Da vorne, aber er sieht nicht sonderlich appetitlich aus.«

«Und jetzt weiß ich’s auch wieder: Ich hab deine Frau beim Einkaufen getroffen, vor sieben Jahren.«

«Bitte?«

«Mein Déjà-vu: Als es König’s noch gab unten am Kornacker. Da sind Kerstin und ich uns an der Gemüsetheke begegnet.«

«Ich schätze, das ist seitdem hundert Mal passiert. Wir sind uns vor zwei Wochen nebenan im Getränkemarkt über den Weg gelaufen. «Wo er es alarmierend fand, dass sie gleich zwei Flaschen Wodka im Wagen liegen hatte, aber Kerstin meint, ihr sei nie was aufgefallen, atemmäßig. Und sie sieht auch nicht aus, als würde sie trinken. Der Eindruck von Verlebtheit entsteht eigentlich nur aus ihrem Bemühen, jünger zu erscheinen, als sie ist. Jetzt schüttelt sie den Kopf und blickt auf einen Punkt in der Ferne, als würde sich von dort aus etwas verstehen lassen, worüber sie schon lange nachgedacht hat.

«Das meine ich nicht. Wir kannten uns ja damals kaum. Es war das erste Mal, dass wir mehr als ein paar Sätze geredet haben. Und ich hatte diesen Broccoli in der Hand. Halb verdorben.«

«Und?«Die Unterhaltung beginnt ihn zu nerven. Kerstin wartet, sie müssen nach Frankfurt, und obwohl er es zu verbergen versucht, ist er innerlich genauso nervös wie sie. Seit Wochen vermeidet er es, sich das Wiedersehen mit Daniel en détail auszumalen. Jetzt sind es noch rund drei Stunden bis dahin.

Irritation manifestiert sich in Form einer senkrechten Falte auf Karin Preiss’ Stirn.

«Was soll ich mit dir darüber reden. Hätte, wenn und aber ist wahrscheinlich nicht dein Metier.«

Darüber wäre er gerne in lautes Lachen ausgebrochen. Hätte, wenn und aber stand in großen Lettern auf dem Käfig, in dem er seit Berlin gehaust und aus dem er sich erst vor kurzem befreit hat; leicht geblendet, ungläubig und nicht sicher, ob der Käfig vielleicht nur ein Stück größer geworden ist. Das kommende Wochenende wird auch in dieser Hinsicht ein Test werden, das weiß er so gut wie Kerstin, und darin dürfte ein wesentlicher Grund für die Nervosität der letzten Wochen liegen, seine und ihre. Möglich, dass er sich einer neuen Freiheit erfreut, aber das bedeutet noch nicht, dass sie beide über den Berg sind.

«Karin, ich hab’s ein bisschen eilig. Kerstin und ich müssen nach Frankfurt, Daniel abholen.«

«Oh!«Augenblicklich macht sie einen Schritt zurück und hebt die Arme — leicht affektiert, auf eine Art, in der sich die Kränkung verrät gegen alle Anstrengungen des Verschleierns.»Viel Spaß dabei.«

«Kommt Linda über Grenzgang?«

«Erst am Samstag.«