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Er hat vergessen, wo Linda wohnt und was sie macht, und will das in diesem Moment auch nicht wissen. Familien mit quengelnden Kindern in Einkaufswagen ziehen an ihnen vorbei Richtung Kühlregal. Seine zwanzig Minuten sind beinahe abgelaufen, und außer Paprika hat er nichts im Wagen.

«Wir sehen uns am Kommers, oder?«

«Du hast hoffentlich nicht vergessen, dass du mir einen Tanz versprochen hast. Ich hab mich extra von meiner Geschäftspartnerin unterweisen lassen.«

«Zieh dir vor allem gute Schuhe an. «Ein Hauch ihres Parfüms weht ihn an, als er weitergeht, und der Blick, den sie zum Abschied tauschen, kommt ihm merkwürdig anzüglich vor. Nach allem, was er von Kerstin weiß, hat Karin Preiss ein paar verzweifelte Affären gehabt in den letzten Jahren, unter anderem mit einem seiner Kollegen, und vielleicht weil er selbst so lange Single war, fühlt er sich ihr jetzt auf unwillkommene Weise verbunden.

Drei Becher süße Sahne, lautet der nächste Eintrag auf seinem Einkaufszettel. Zügig und mit dem nicht unangenehmen Gefühl unverschuldeter Vergeblichkeit erledigt Weidmann alle Besorgungen auf Kerstins Liste. Sogar Grillanzünder kauft er, obwohl er weiß, dass er damit ihren Sinn für Humor wieder mal verfehlen wird. Zwei Mal winkt er Karin Preiss von einer Kreuzung im Regallabyrinth des Supermarkts aus zu (sie hat keinen Zettel dabei und schlendert in gemächlicher Ziellosigkeit durch die Gänge). Als er seine Sachen aufs Band legt, steht sie blätternd am Zeitschriftenregal.

Draußen liegt Hitze über dem Parkplatz. Die Sonne unsichtbar am Horizont, der Himmel blau und glänzend. Obwohl es längst zu spät ist, geht er noch einmal seine Liste durch, bevor er sie zusammenknüllt und in die Tasche steckt. Im selben Moment klingelt sein Telefon, und Kerstin fragt:

«Wo bleibst du?«

«Du hast keine Ahnung, was hier los ist. Ganz Bergenstadt kauft ein.«

«Es ist halb sieben.«

«Ich weiß. Ich bin auf dem Weg zum Auto. Schönen Gruß von Karin übrigens.«

«Brauchst du deshalb so lange?«

«Ich sage doch …«Er hat sein Auto erreicht und Schwierigkeiten, den Schlüssel mit der linken Hand aus der rechten Hosentasche zu ziehen.

«Ist ja auch egal. Für das Abendessen ist es sowieso zu spät.«

«Es tut mir leid.«

Kerstin seufzt.

«Findest du nicht, dass wir manchmal eine unglückliche Figur abgeben?«

«Wir bemühen uns. «Auch das Umladen der Einkäufe gestaltet sich schwierig mit einer Hand, zumal der Boden leicht abschüssig ist und der Einkaufswagen beharrlich zum Nachbarauto strebt. Weidmann spürt Schweiß auf seine Stirn treten und Widerwillen gegen das Gespräch in sich aufkommen. Zwei Polizisten stehen rauchend vor dem Eingang der Station und geben ihm das Gefühl, das Objekt spöttischer Bemerkungen zu sein.

«Bemühen, ja. Ich finde manchmal, du könntest etwas größere Anstrengungen machen. Größere Anstrengungen im Kleinen sozusagen.«

«Ja«, sagt er. Seine Lust am Geständnis ist größer, wenn er alleine ist mit sich, aber für heute hat er das Maß tolerierbarer Verfehlungen ausgeschöpft. Er schließt den Kofferraum und bringt den Einkaufswagen zurück zum Depot, mit einem Ohr immer noch seiner Frau beim Nachdenken zuhörend.»Bist du noch dran?«

«Ist ja nicht mein Stil, einfach aufzulegen.«

«Wir gehen heute Abend in Frankfurt schick essen und machen den Grillabend morgen. Mit mehr Zeit.«

«Morgen ist Kommers. «Sie hat längst denselben Entschluss gefasst, das spürt er, aber die Regeln des Spiels verlangen das Anführen von Gegenargumenten.

«Niemand von uns ist besonders scharf auf den Kommers. Wenn wir nach dem Essen hingehen, ist es früh genug.«

«Warum bin ich so nervös?«, fragt sie.

«Weil du deinen Sohn so lange nicht gesehen hast.«

«Ich könnte mich einfach freuen.«

«Tust du auch. Man freut sich manchmal bangen Herzens.«

«Ich leg jetzt auf und heule kurz, und du beeilst dich bitte. Das Essen hab ich abgeschrieben, aber wenn wir zu spät zum Flughafen kommen, bring ich dich um.«

«Ich fliege«, sagt er und legt als Zweiter auf. Auf dem Parkplatz nimmt der Betrieb langsam ab. Alles strebt nach Hause. Die Leute haben was vor, die haben ein Ziel und ziehen ihre Kinder hinter sich her, wenn sie mit verträumtem Blick stehen bleiben. So wie er. Er hat sich schon mal darüber gewundert, aber er weiß nicht mehr wann, und vielleicht ist es auch nur, weil Karin Preiss von Déjà-vu gesprochen hat. Es gibt nichts, worüber er sich wundern müsste: Die Leute tun das Selbstverständliche und Alltägliche und sind froh, dass der Grenzgang beginnt. Die Zeit des Wartens ist vorbei. Der Tag neigt sich dem Ende, und die Stadt ist geschmückt. Nur ihm läuft der Schweiß über den Rücken, er steht reglos inmitten der Geschäftigkeit, und für einen Moment glaubt er gar nicht, dass schon wieder sieben Jahre vergangen sein sollen.

Epilog

Dann endlich ist Grenzgang.

Von außen betrachtet, drängt sich ein Eindruck auf, den Kerstin nicht zu benennen vermag, jedenfalls nicht genau. Können die wirklich wie auf Kommando so ausgelassen und fröhlich sein, wenn das Ereignis eintritt, dem sie den ganzen Sommer über entgegengefiebert haben? Diese Eintracht aus Menschen und Wald kommt ihr unglaubwürdig vor, aber vielleicht liegt es daran, dass sie nicht mit gewandert ist, sondern am Marktplatz den Bus genommen hat und zum Frühstücksplatz gefahren ist. Wäre sie gewandert, würde das Bier frischer schmecken und sie wäre näher dran am Geschehen, aber immerhin legen schon die ersten Schlucke diesen unsichtbaren Schleier über ihre Sinne, hinter dem der Trubel ein wenig abrückt. Kein Buhlen um Aufmerksamkeit, sie sitzt wie in ihrer eigenen Lichtung und legt eine Hand über die Augen, gegen die Sonne. Schaut über den Platz auf der Suche nach bekannten Gesichtern und beginnt zu schwitzen.

Sie hat viel nachgedacht in den vergangenen Wochen, und dabei ist ihr das Grundmuster aufgefallen, nach dem ihr Leben sich schon so lange vollzieht. Eine Art Selbstbestimmung gegen den eigenen Willen, im Kleinen wie im Großen. Sie hätte was Helleres anziehen können, zum Beispiel, hat sich aber nicht getraut. Hätte sich nicht so einengen lassen sollen von den Bedenken und Ansprüchen anderer, sondern mehr ihren eigenen Bedürfnissen folgen. Hat sie aber nicht. Einmal entdeckt, kam es ihr beinahe wie das Motto der letzten zehn Jahre vor: Immer tun, was die anderen erwarten. Und obwohl sie nicht der Typ ist für radikale Veränderungen — auswandern nach Neuseeland, in eine Frauenkommune ziehen — hat sie gewusst, dass diese Entdeckung nicht folgenlos bleiben wird.

Mach was du willst, war alles, was Daniel auf ihre Erklärungsversuche erwidert hat. Es klang wie ausgespuckt und war auch so gemeint, aber zum ersten Mal in ihrem Leben als Mutter ist sie bereit, nicht zuerst an ihn zu denken.

Sie trinkt einen kleinen Schluck Bier und sieht Thomas Weidmann in der Menge stehen, im Kreis von Kollegen aus der Schule. Granitzny ist dabei und wischt sich in einem fort die Stirn, während er das Wort führt und die anderen nicken. Mit gegen das Licht zusammengekniffenen Augen hält Kerstin das Bild fest und stellt sich selbst hinein, an seine Seite, hört zu und lacht mit. Sieht sich eine Hand auf seinen Arm legen, ihren Kopf gegen seine Schulter gelehnt, seinen Arm um ihre Taille. Dann nimmt sie das Bild und hält es gegen das warme Licht aus ihrem Garten, hinein in die offene Tür zu Wohn- und Schlafzimmer. Montage oder Möglichkeit? Da ist ein leeres Zimmer, in dem die Sachen ihrer Mutter in Kisten stehen und in das Daniel nicht zurückwill, ohne zu sagen warum. Und da ist das Wissen, dass das Haus am Rehsteig sich weiter leeren wird nach Daniels Abitur. Nach den Ferien geht er in die Oberstufe, und sie spürt jetzt schon diese Beschleunigung in seinem Leben, seine raumgreifenden, ungeduldigen Schritte weg von ihr. Jahrelang war sein Heranwachsen der Zeitmesser auch für ihr Leben, aber jetzt gibt es diesen Gleichschritt nicht mehr, und während sie ihm angstvoll hinterherblickt, kommt sie selbst gehörig ins Straucheln angesichts der simplen Frage: Was nun?