«Alles was ich sagen wollte, ist: Ich sehe die Risiken auch, aber ich glaube, dass sie kleiner sind als die Chancen. Und davon abgesehen, befinde ich mich an einem Punkt in meinem Leben, wo das Wort Risiko keinen sonderlich bedrohlichen Klang mehr hat. Was ich bisher für selbstverständlich gehalten habe, ist sowieso hinüber.«
«Was willst du jetzt von mir hören? Das mit der Firma tut mir leid.«
«Nein, nein. Ich bin, wenn ich ehrlich sein soll, nicht mal richtig traurig über den Verlust. Beinahe glaube ich, ich hab sogar drauf gewartet, dass so was passiert. Jetzt ist endlich Schluss mit Rotarier-Bällen und diesem ganzen Firlefanz. Jetzt stell ich zur Abwechslung selbst was auf die Beine. Also, lass es dir durch den Kopf gehen, denk darüber nach. Vielleicht fahren wir nach Grenzgang mal zusammen raus, und du schaust dir das Gebäude an. «Sie legt eine Hand auf Kerstins Schulter und fährt ihr über den Nacken, so langsam, dass Kerstin an ein gewisses Hinterzimmer denken muss und Karins nächsten Satz erst gar nicht versteht.»Wusstest du eigentlich, dass die Blumen damals von mir waren?«
«Die Blumen?«
«Vor deiner Tür. Die Veilchen zum Geburtstag.«
«Nein«, sagt sie automatisch und wahrheitsgetreu.»Wusste ich nicht. «Sie hat Durst jetzt und spürt Schweiß unter ihren Armen. Wahrscheinlich dauert es nicht mehr lange, bis die Wettläufer mit ihren Peitschen zum Aufbruch rufen, und sie hat sich vorgenommen, vorher noch bei Thomas Weidmann und seinen Kollegen vorbeizuschauen. Vielleicht liegt es an Karin Preiss, aber ihr ist plötzlich klar, dass sie nicht warten darf, bis der Kerl von sich aus mehr anbietet als Wangenküsse zum Abschied. Sie muss die Sache jetzt in die Hand nehmen, die Sache Weidmann. Schließlich hat sie ihn schon mal in der Hand gehabt, und es fühlte sich nicht schlecht an.
«Warum solltest du mir Veilchen schenken?«, fragt sie.
«Ich wusste, dass du Geburtstag hast, und ich hatte dieses Gefühclass="underline" dass wir einander … helfen können. Ganz einfach durch Freundschaft. Ich hatte dann bloß nicht den Mut, dir die Blumen selbst zu geben.«
«Sei ehrlich: Du hattest von Anfang an vor, mich in diesen Club zu schleppen.«
«Alleine wär ich da nie hingefahren.«
«Und das nennst du einander helfen. «Es ist nicht mehr Wut in ihr, stellt sie fest, als Luft zwischen zusammengepresste Lippen passt. Sie hat es gewusst und ist froh, es ausgesprochen zu haben, aber eigentlich war es immer so, auch schon mit Anita: Freundschaft gegen Widerstände und mit Gefallen an der Nicht-Harmonie. Also dreht sie den Kopf, küsst Karin Preiss auf die parfümierte Wange und denkt: Nimm das, alte Lesbe.
Anita ist natürlich nicht zum Grenzgang gekommen. Irgendwo in der Schweiz wird ein interessanteres Fest gefeiert.
«Ich denk drüber nach«, sagt sie im Aufstehen. Wischt sich mit beiden Händen Grashalme von der Hose.
«Eins noch: Müssen wir mit Herrn Weidmann sprechen?«
«Warum?«
«Er war da, hast du gesagt.«
«Dich hat er nicht gesehen.«
«Soll heißen, du hast mit ihm gesprochen?«
«Kurz. «Ihr Schatten fällt auf Karins Gesicht, und das macht es leichter, dem Blick und der Lüge standzuhalten. Sie schuldet Karin Preiss nichts, das ist klar. Einstweilen erscheint das Wort Freundschaft noch reichlich hoch gegriffen für ihrer beider Beziehung. Vielleicht sollten sie erst mal Kolleginnen werden. Durch dunklen Blusenstoff fühlt Kerstin die Sonne auf der Haut und stellt sich vor, dass Thomas Weidmann von da unten im Getümmel einen Blick auf ihren Hintern wirft.
«Ich würde ihn sonst anrufen und mich seiner Diskretion versichern.«
«Nicht nötig. «Hinter ihr spielt die Musik, quillt von allen Ecken des Frühstücksplatzes auf und wird vom Wind über die Köpfe getragen. Lass die Finger von ihm, denkt sie und freut sich über diesen plötzlichen kriegerischen Impuls in ihrem Herzen. Den ersten seit Wochen. Wozu immer Lamm sein? Sie wird jetzt da runtergehen und sich so selbstverständlich an seine Seite stellen, als wäre das schon immer ihr Platz gewesen.
«Wir sehen uns später«, sagt sie.»Und danke für die Blumen.«
«Ich ruf dich an.«
Dann steigt sie hinab ins Getümmel, hinein in die Mischung aus Biergeruch und Lachen, in die Sonnenwärme auf glänzenden Gesichtern. Lautstark werden die letzten Steaks und Würstchen angepriesen. Sie entscheidet sich für ein zweites Bier und nimmt es lächelnd aus einem vorbeischwebenden Drahtkorb. Und nun hin zu ihm, denkt sie. Zeiten gab’s, da standen die Zweifel so dicht an dicht vor ihr wie jetzt die Masse der Grenzgänger, aber der Vorteil der Zeiten ist, dass sie irgendwann aufhören, um anderen Platz zu machen, und dass dazwischen Lücken bleiben, durch die man vorankommt. Sie dreht sich in der Hüfte, grüßt hier und da und fragt sich, was eigentlich gegen die Idee des Tanzstudios spricht. Im nächsten Jahr wird ihr Unterhalt gekürzt, der Ausgleich durch das Pflegegeld fällt weg, sie muss sich ohnehin Arbeit suchen. Also? Über Einzelheiten werden sie reden müssen, aber grundsätzlich hätte ihr gar nichts Besseres passieren können als Karin Preiss’ Plan mit dem Studio. Das ist etwas, was sie alleine nie in Angriff nehmen würde und was aus Karins ›einander helfen‹ am Ende doch mehr als eine Unaufrichtigkeit machen könnte.
Ein eigenes Tanzstudio! Sie trinkt im Gehen und muss an sich halten, nicht laut zu lachen. Wahrscheinlich hat es damit zu tun, dass sie wochenlang keinen Alkohol getrunken hat. Aber nirgendwo steht geschrieben, dass Träume die Konsistenz von Seifenblasen haben müssen, und den naiven Schwung von Karin Preiss soll man nicht unterschätzen. Die träumt nicht rum, sondern denkt strategisch und in Zielgruppen. Die hat unter all der Schminke die Konstitution eines Traktors, und warum sollte sie nicht zur Abwechslung mal vom Elan ihrer Nachbarin profitieren?
Schließlich entdeckt sie das gesuchte Gesicht in der Menge. Spöttisch lächelnd, während er Granitzny zuprostet und sein Glas leert. Dabei gut gelaunt auf seine stille Art: Als ob er sich selbst nicht allzu viel machen würde aus seiner guten Laune. Warum der, fragt sie sich, wischt die Frage umgehend beiseite und zwängt sich durch die letzten Grenzgänger, die noch zwischen ihnen stehen. Jetzt oder nie, denkt sie. Offenbar hat er sie kommen sehen, jedenfalls dreht er der Gruppe um Granitzny den Rücken zu, und etwas in seinem Gesicht sagt ihr, dass es nicht mehr vieler Worte bedürfen wird, um ihrer beider Schicksal zu besiegeln.
Eine halbe Stunde schon steht er im Kreis seiner Kollegen, hört Granitznys Sticheleien zu und lässt den Blick schweifen über die Menge auf dem Frühstücksplatz. Hin und wieder vergewissert er sich, dass seine Tante nicht alleine sitzt beim Stand der Männergesellschaft Lahnaue, und nippt an seinem Bier. Zweiter Tag des Grenzgangs und er müsste lügen, wollte er behaupten, sich nicht bereits ein bisschen zu langweilen.
«Eine Sänfte. Könnten Sie nicht irgendwo eine Sänfte für Ihren Schulleiter auftreiben?«In Granitznys Geplauder mischt sich schon den ganzen Morgen dieser Unterton, mit dem er die Grenzen seiner Gesprächspartner austestet, hier und da auf Füße tritt und sich umgehend entschuldigt im ›Hat doch wohl nicht weh getan‹-Tonfall des gut gelaunten Tyrannen. Vor zehn Minuten hat er Weidmann den ›ranghöchsten Akademiker des Frühstücksplatzes‹ genannt und dabei wie zufällig einen Kollegen angelächelt, von dem alle an der Schule wissen, dass er seit fünfzehn Jahren seine Sommerferien einem germanistischen Dissertationsprojekt widmet, dessen Arbeitstitel selbst der Doktorvater — falls er noch lebt — längst vergessen hat.
Kerstin Werner trägt Dunkel, aber nicht mehr Schwarz, wenn er das aus der Entfernung richtig erkennt, und sie hat sich die Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Wie damals am Kleiberg. Frau Preiss sitzt neben ihr, und darum verzichtet er darauf, sich dort oben am Rand der Böschung zu ihr zu gesellen. Immerhin hat sie sich doch zur Teilnahme am Grenzgang entschlossen, und vielleicht kündigt sich darin eine allmähliche Rückkehr aus der Selbstabkapselung ihrer Trauerzeit an. Einen Monat lang haben sie einander nur zu gelegentlichen Spaziergängen gesehen, bei denen Kerstin Werner die Arme vor der Brust verschränkt und ihren Gang zu einem zögerlichen Schlendern gemacht hat, was ihm das Gefühl gab, es stünde etwas zwischen ihnen, das keiner von beiden sich auszusprechen traute. Als würden Gedanken sich wie Schlingpflanzen um ihre Knöchel winden. Nachdenklich hat sie vor sich hin geblickt und nach hinten offene Sätze gesagt wie: Ich weiß nicht mal, inwiefern ich sie wirklich geliebt … Verstehst du, ob ich sie wirklich … Aber andererseits: Kann man das überhaupt …? Satzenden, die in die vermeintlichen Abgründe ihrer Selbstzweifel stürzten, aber sosehr er auch den Hals gereckt hat, er fand sie weder sonderlich tief noch besonders abgründig und Kerstin Werners Ringen mit sich nicht frei von Selbstgefälligkeit.