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So sind sie in den vergangenen Wochen durch eine Art Moratorium ihrer gegenseitigen Annäherung gelaufen. Ein jeder sah auf seine Schuhspitzen und sagte bei jedem Reh, das ihren Weg kreuzte: Ein Reh. Spaziergänge wie Deutsch für Anfänger. Manchmal hat er ihr den Arm um die Schultern gelegt, sich über seine Hilflosigkeit gewundert und nicht gewusst, ob es daran liegt, dass er nicht aus seiner Haut kann oder dass sie sich in ihrer so einschließt. Jetzt sieht er zu, wie sie sich von ihrem Platz erhebt und einen Moment am Rand der Böschung steht, und der Anblick weckt ein Bedürfnis in ihm, das wochenlang unter ergebnislosen Grübeleien verschüttet war.

«Was soll’s«, poltert Granitzny,»den Kleiberg hab ich überstanden, und näher komm ich der Unsterblichkeit sowieso nicht mehr. Kollege Weidmann!«

«Ja?«Er hätte es vorgezogen, noch eine Weile Kerstin Werner zu beobachten, aber Granitznys Blick hat sich an ihn geheftet, und dem Glänzen seiner Augen lässt sich entnehmen, dass der Schulleiter wieder mal einen Coup ausgeheckt hat.

«Freut mich, dass Sie sich nach kurzem Zögern entschlossen haben, das Amt des Stellvertretenden Schulleiters doch zu übernehmen. Vonseiten des Schulamts gibt es keine Einwände. «Mit unverhohlenem Triumph in der Miene streckt Granitzny den Kopf in seine Richtung, so dass beinahe ein Hals entsteht zwischen Kinn und Schultern. Auch ein volles Bierglas kommt Weidmann entgegen.»Also dann: Auf gute Zusammenarbeit!«

«Hoch! Hoch! Hoch!«, schreit ein besonders enthusiastischer Uniformierter auf seinem Bierfass.

Granitzny im Augenblick der Attacke ist ein so grotesker Anblick, dass Weidmann für einen Moment seine eigene Überrumpelung einfach vergisst. Wie ein Feldmarschall steht er da, der dem unterlegenen Gegner die Friedensbedingungen diktiert — verschmitzt, frech und so händeringend bemüht um Unausstehlichkeit, dass man ihn am liebsten in die Arme nehmen würde und sagen: Bemüh dich nicht, du bist ein Scheusal. Der hat das geplant, vielleicht seit Stunden, vielleicht seit Tagen, und freut sich diebisch über die Ungerührtheit, mit der er seinen Säbel zückt, um Tatsachen zu schaffen.

«Seit wann haben denn Diktatoren Stellvertreter?«, fragt Weidmann und weiß, dass er damit den Angriff nicht abwehren kann. Granitzny bricht in schallendes Lachen aus, die Kollegen werfen einander Blicke zu. Kerstin Werner, stellt Weidmann mit einem Blick aus den Augenwinkeln fest, hat sich unterdessen von ihrer Nachbarin verabschiedet und kommt die Böschung herab. Vielleicht sollte er sich ein Herz fassen, sie in den Arm nehmen und sagen: Okay, versuchen wir’s. Es könnte klappen oder auch nicht. Hilft ja nicht, sich diesen schalen Optimismus einzureden, bloß weil das romantischer klingt.

«Okay«, sagt Granitzny und bittet mit huldvoller Geste um Aufmerksamkeit. Dem macht das einen Heidenspaß, und Weidmann fühlt sich außerstande, ihm die Inszenierung zu verderben.»Ich könnte jetzt darauf hinweisen, dass sogar der Allmächtige einen Stellvertreter hat, aber das ginge vielleicht doch zu weit. Wir alle kennen unsere Grenzen, nicht wahr?«Unverändert hält er sein Glas in Weidmanns Richtung, und nur seine Stimme hat sich um eine Winzigkeit verdunkelt.»Auf gute Zusammenarbeit, Kollege.«

«Prost!«Weidmann setzt sein Glas an und leert es in einem Zug. Sonne trifft ihn auf der Stirn. Wird er eben Stellvertretender Schulleiter, warum nicht? Mit einem Bier in der Hand sieht er Kerstin in seine Richtung kommen, außerdem mit einem anderen Blick als zuletzt, offener und erwartungsvoller. Er hört die Glückwünsche der Kollegen, aber im Grunde interessiert ihn das schon nicht mehr. Mit einem Nicken signalisiert er Granitzny, dass er gewonnen hat, dann dreht er sich in die Richtung, aus der Kerstin ihm entgegenkommt.

«Schau an: Du bist ja doch noch gekommen«, sagt er und denkt: Am besten wäre ein offener Pakt. Er ist nicht in der Lage, den Versuch nicht zu wollen, aber mehr hat er vorerst nicht zu bieten. Ein filigranes Vielleicht. Sie dürfen bloß nicht anfangen, die Tiefe ihrer Wunden zu vergleichen, das würde am Ende zu furchtbaren Siegen führen.

«Drei Tage zu Hause sitzen. «Sie schüttelt den Kopf. Jünger sieht sie aus mit diesem Pferdeschwanz, und der Lidschatten, den sie aufgetragen hat, verleiht ihrem Blick zusätzliche Intensität.»Amüsierst du dich?«

«Und wie! In Granitznys Gegenwart gibt’s ja immer was zu lachen. «Er nickt und zuckt die Schultern. Meint es ernst und ist sich dennoch nicht sicher, wie er es sagen solclass="underline" Nehmen wir uns die Liebe als Fernziel vor. Aber Kerstin schaut ihn an, als wolle sie sich nicht länger mit Grübeleien abspeisen lassen, die will endlich was haben, was sie in den Wind schlagen kann. Und er ebenso! Warum sich einerseits so widerstandslos herumschubsen lassen von Granitznys kindischem Dickschädel und dann die Hände hinter dem Rücken verknoten, wenn es um sein privates Glück geht? Da vor ihm steht sie, hat alle Mauerblümchenattitüden von sich abgeworfen und sieht ihm direkt in die Augen.

«Hör zu«, sagt er mit dem Gefühl, sich von sehr weit oben fallen zu lassen.»Ich finde, wir haben genug Zeit vertrödelt, oder?«

«So was Ähnliches wollte ich auch gerade sagen.«

«Ich meine: Wir könnten uns ruhig häufiger sehen.«

«Und es müsste auch nicht immer im Wald sein.«

«Ich bin abends häufig frei.«

«Du musst nur klingeln. «Eben noch hat sie überlegt, ihn für den Abend auf ihre Terrasse einzuladen, aber jetzt sieht sie sich ihr Haus betreten, mit Thomas Weidmann an der Hand. Kein Verweilen in der Diele, in der schattigen Sommerstille hinter heruntergelassenen Jalousien. Eine offene Tür, auf die sie zugehen, als wäre es die einzige. Das Ende der Trauerzeit und der Beginn von etwas, was ihr vielleicht nur deshalb so undeutlich vor Augen steht, weil es so ungeheuer nah ist. Schwung und Schwindel ergreifen sie.

«Sollen wir uns jetzt küssen? In aller Öffentlichkeit, wie zwei Teenager?«Während sie ihm in die Augen sieht, machen ihre Gedanken einen wilden Sprung aus ihrem Haus und hinein in die Offenheit namens Zukunft: Sollte sie in Kürze eine berufstätige Frau sein, die nach der Arbeit ihren Freund besucht? Es ist verrückt, aber sie steht ganz ruhig, nimmt seine Hand und wünschte in der anderen kein Bierglas zu haben. Er hat kleine Falten um die Augen; die sind ihr schon einmal aufgefallen, aber sie weiß nicht mehr wann. Alles geht plötzlich ein bisschen schneller.

«Später«, sagt er.»Erst mal werden wir uns huppchen lassen.«

Sie legt den Kopf in den Nacken und lacht. Ein leises, flehendes Nein formt sich in ihrem Kopf. Um den Hals fallen möchte sie ihm, ihn drücken und herzen, bis die Menge den Frühstücksplatz verlassen hat und sie beide in die Gegenrichtung zurücklaufen können, zurück nach Bergenstadt.

«Niemals. «Immer noch lachend. Aufgeschreckt von einer fernen Erinnerung und vollkommen machtlos.

«Doch. Auf der Stelle.«

«Lass uns den Bus nehmen und zu mir fahren.«

«Danach. «Sein Lächeln lässt keinen Widerspruch zu.»Erst huppchen.«