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Die Bauarbeiter waren bereits nach Hause gegangen.

Als Konstanze schließlich anrief, saß er seit einer halben Stunde im Auto und beobachtete das Ausgehen der Lichter hinter den Fenstern. Hier eins und da eins. Schließlich auch bei Schlegelberger.

«Wo bist du? Was machst du? Wie geht’s dir?«

«Im Auto. Nichts. Okay.«

Konstanze seufzte.

«Ich kann ja viel, aber dich vor dir selbst beschützen — das wahrscheinlich nicht.«

«Verlangt auch keiner. «Schlegelberger trat aus dem Eingang, sagte etwas halb über die Schulter zu jemandem hinter ihm und sprach dann weiter in sein Handy.

«Nein. Dabei wär’s mir nicht unrecht, du würdest das von mir verlangen. Das oder was anderes. Dann hätte ich nämlich eine genauere Idee, was ich tun soll.«

«Zum Beispiel?«

«Merkst du, dass du dabei bist, keine besonders gute Figur abzugeben?«

«Sei ein Mann, wirst du als Nächstes sagen.«

«Sei ein Mann. Warum nicht?«

«Hast du schon mal gesagt.«

«Ich hab vieles schon mal gesagt, ich hab das meiste von dem, was ich dir sage, schon mal gesagt. Das ist der Punkt: Es bringt nichts.«

Ein weißhaariger, mittelgroßer Mann, unauffällig und mit guten Manieren, beliebt bei der Verwaltung ob seiner Höflichkeit, weil er alles Herrische, den Napoleon in sich, nur in Seminaren und Konferenzen rausließ. Eine weiche, leise Stimme, und das war etwas, was Weidmann schon als junger Doktorand gedacht hatte: Hüte dich vor denen mit den leisen Stimmen. Nur kurz hatte er das damals gedacht, aber jetzt fiel es ihm wieder ein. Gutes Gefühl, früher mal klüger gewesen zu sein.

«Bist du noch dran?«, fragte Konstanze.

«Du meinst, ich soll ein Lied pfeifen und einfach neu anfangen.«

«Du musst dich nicht verstellen. Sei sauer, traurig, frustriert, du hast allen Grund dazu. Aber erlaub der Sache nicht, dein Leben zu zerstören.«

Oder unseres, dachte er.

«Aha.«

«Du hast es immer gesagt: Wissenschaft ist ein Vabanquespiel. Wie Reise nach Jerusalem: Du musst im richtigen Moment, wenn die Musik aussetzt, deinen Hintern auf den freien Platz kriegen. Aber ob da gerade ein freier Platz in der Nähe ist, bestimmen andere. Du kannst nur tun, was alle tun, und dabei Augen und Ohren offen halten — deine Worte.«

Seine Worte. Vielleicht hätte er früher seine Indifferenz nicht so betonen sollen, seine innere Distanz zum Wissenschaftsbetrieb. Verstellung rächt sich, wenn sie auf die Probe gestellt wird. Jetzt kam es ihm vor, als wäre er viel zu lange im Kreis gelaufen und hätte die ganze Zeit über gewusst, dass auf dem zuletzt entfernten Stuhl sein Name stand; hätte es zwar nicht gelesen, aber in den Mienen der anderen erkannt und wäre trotzdem immer weiter gelaufen, so wie die anderen auch. Dann Stille, Ende der Musik, alle saßen auf ihren Plätzen und sahen ihm zu, wie er langsam auslief, eine letzte Ehrenrunde drehte und sich nichts sehnlicher wünschte, als sich einreihen zu dürfen unter die einzigen Kollegen, die er hatte. Keine Idee, wie es weitergehen sollte. Vorerst saß er im Auto und beobachtete Schlegelberger, der das Jackett auszog, bevor er in seinen Mercedes stieg, dann langsam vom Parkplatz rollte und hinter den Resten des Bauzauns verschwand.

«Ein Hoch auf meine Worte«, sagte er.

«Ich kann mit Selbstmitleid nicht umgehen. Du hast immerhin noch dein Staatsexamen.«

Das Staatsexamen … jetzt also auch Konstanze.

«Ich hab sogar Abitur«, sagte er.»Ich könnte studieren. «Und er musste stark an sich halten, nicht hinzuzufügen: oder kleinen Migrantenkindern Deutsch beibringen. Er hatte sich unter Kontrolle, immer noch, er wurde sarkastisch, ihm lagen Gemeinheiten auf der Zunge, aber wütend wurde er nicht. Thomas Weidmann, 36 Komma sieben Grad am Abend, höchstens.

«Du könntest eine oder zwei der besseren Flaschen aus deinem Weinkeller holen und bei mir vorbeikommen.«

«Heute nicht.«

«Heute nicht. Heute willst du im Saft deiner eigenen Verletztheit schmoren. Und ich habe am Nachmittag noch gedacht, es wäre manches leichter, wenn wir zusammenziehen würden. Ich meine: zusammengezogen wären. Jetzt ist vielleicht nicht der beste Zeitpunkt.«

«Nein.«

«Was wirst du jetzt tun? Ich meine genau jetzt, heute. Oder morgen.«

«Grenzgang feiern. «Er wusste es selbst erst, als er es sagte. Nach Bergenstadt fahren und Grenzgang feiern.

«Du hast gesagt, da kriegen dich dieses Jahr keine zehn Pferde hin. Findet das dieses Wochenende statt?«

«Heute ist Kommers, ab morgen wird gewandert.«

«Wir sehen uns also dieses Wochenende nicht«, sagte sie, und er glaubte ihr resigniertes Nicken zu sehen.»Ich bekomme keine Chance, dir irgendwie behilflich zu sein. Nein?«

Das Licht in der Bibliothek ging aus, und kurz darauf kamen die beiden Hilfskräfte aus dem Gebäude, gefolgt von einer Handvoll Studenten. Die Autos fuhren mit angeschalteten Scheinwerfern jetzt, der Himmel zeigte noch Spuren von Violett, von Wolkenschleiern und einem böigen Aufruhr, der den ganzen Tag nicht zu sehen gewesen war.

«Nehme nicht an, dass du Zeit und Lust hast auf drei Tage feiern in der Provinz.«

«Ich muss morgen und übermorgen unterrichten. Wenn du’s mir etwas früher gesagt hättest …«

«Ich hab mich in diesem Moment entschieden. Das ist meine neue Spontaneität.«

«Immerhin. Und deine Mutter wird sich freuen. Grüß sie. Du bist sicher, dass du nicht wenigstens noch essen willst, bevor du fährst.«

«Ich muss los, sonst wird’s zu spät.«

«Ruf mich an, wenn du da bist.«

«Bist du sauer?«

«Fahr vorsichtig, Thomas.«

Eine Stunde später stieg er aus dem Auto, weil er pinkeln musste. Der Parkplatz war dunkel, und im Gebäude brannten nur noch die Lichter im Treppenhaus. Draußen der Geruch von Sand und nassem Stein. Eine Stunde lang hatte er im Auto gesessen und weder Radio gehört noch Zeitung gelesen, sondern diesem Gefühl in sich nachgespürt, dass das Leben der letzten zwanzig Jahre, und vielleicht sogar der nächsten zwanzig, sich zusammenzog auf diesen Moment, dieses komprimierte Jetzt im Auto — aber er bekam das Gefühl nicht zu fassen. 1999 war sowieso eine unwahrscheinliche Jahreszahl, der sich emotional nur schwer gerecht werden ließ. Lenk nicht ab. Eine Schattenzahl, kalendarisches Zonenrandgebiet, man glaubte ein Klicken zu hören und begann zu lächeln über die Aufbrüche, die überall so emsig plakatiert wurden. Wir sprechen von dir. Außerdem fand er es schon schwierig genug, seiner eigenen Lebenssituation emotional gerecht zu werden, von Konstanze nicht zu reden. Wenige Fußgänger gingen abends durch diesen Teil der Stadt, und in dem Imbiss, den er nach ein paar Schritten betrat, vertrieb sich der Inhaber die Zeit am Glücksspielautomaten.

Er pinkelte, kaufte ein Bier und kehrte in seinen Golf-Kokon zurück.

Er musste los, aber er wusste nicht wovon. Schlussstriche ließen sich so schlecht ziehen in diesem sumpfigen Gelände. Seine Mutter würde sich freuen und keine Fragen stellen, sondern in seinem Blick lesen, dass was nicht in Ordnung war. Und er würde ihr mindestens sagen müssen, dass sie ihn im Büro nicht mehr anrufen solle.